Süddeutsche Zeitung

Schäftlarn:Neue Heimat am Kirchberg

Josef Fencl war einst selbst geflohen. Nach seinem Tod vermachte er sein Haus in Schäftlarn deshalb dem Münchner Sozialverein Biss. Nun wohnen dort eine Flüchtlingsfamilie und zwei Obdachlose

Von Marie Heßlinger, Schäftlarn

Hagebutten und Rosen wiegen sich im Garten, dazu ein knorriger Apfelbaum. Karin Lohr sammelt Birnen von der Wiese. "Wir haben ihn nicht persönlich gekannt", sagt die Geschäftsführerin der Straßenzeitschrift Biss (Bürger in sozialen Schwierigkeiten). Sie wisse nur, dass er im Dezember 2016 gestorben ist, im Alter von 85 Jahren. Dass er ihrem Verein ein Haus vermacht hat, davon habe sie allerdings erst einige Monate später erfahren.

Er, das ist Josef Fencl, ein gelernter Maurer, der sich am Kirchberg mitten in Hohenschäftlarn ein Haus gebaut hatte. In seinem Testament hatte Fencl verfügt, dass in dem Haus nach seinem Tod Menschen wohnen sollen, die es nicht so gut hatten im Leben. Das Haus ging als Erbe deshalb an den Verein Biss über. Nun wohnen Geflüchtete darin - und zwei Obdachlose aus Sachsen.

Vor dem Seiteneingang zur Souterrainwohnung sitzt ein großer Mann mit kurzem Haar und langem Bart, die Hände auf die Schenkel gestützt, und schnippt gegen seine Zigarette. "Am Bahnhof habe ich immer gesagt: Ich habe die größte Wohnung, die man sich vorstellen kann", sagt er auf Sächsisch und mit einer Fröhlichkeit in der Stimme, die überrascht. Dreieinhalb Jahre lebte Udo Güldner im Münchner Hauptbahnhof. Er schlief im Sitzen auf Wartestühlen, um niemanden zu verärgern. Wenn es kalt war, stieg er in eine Straßenbahn - "da kann man sich ab halb zwei in der Nacht reinsetzen und Runden fahren". Die Essensauswahl sei bei all den Imbissbuden groß gewesen, "zum Frühstück zwei Hähnchenschenkel und Butterbrezeln für fünf Euro, da kann man nicht meckern", sagt er. Zum Duschen und Haare schneiden nutzte er die Bahnhofstoiletten.

Güldner wohnte nicht nur im Bahnhof, er arbeitete auch dort, und zwar sechs bis sieben Tage die Woche, als Verkäufer der Straßenzeitschrift Biss. 400 Exemplare im Monat kauft der 58-Jährige in Vorkasse, er freut sich über Trinkgeld. Manche Passanten zahlten zwar nur die 2,20 Euro, welche die Zeitschrift kostet, "aber klar, wer selbst aufs Geld gucken muss, ist ja logisch, der kann nicht mehr geben". Was er bei seinem Job als Biss-Verkäufer über die Menschen gelernt habe? Güldner guckt kurz verdutzt. "Dass es viele Hektiker gibt", sagt er dann, "Hektik, die es gar nicht geben müsste, weil alle drei bis fünf Minuten eine U-Bahn fährt."

Die Abfahrtszeiten der Bahnen kennt Güldner gut, auch Daten merkt er sich. "In München bin ich seit dem fünften Dezember 1999 abends um 22 Uhr", sagt er. "Willste mitkommen?", habe ihn ein Kumpel damals in Dresden gefragt, bevor er mit seinem Wochenendticket nach München fuhr. Güldner kam mit. Einen Tag später verkaufte er die Biss - und blieb.

Neben Güldner gibt es noch 109 andere Biss-Verkäufer in München, die meisten von ihnen Männer, die meisten zwischen 50 und 70 Jahre alt. Die Texte ihrer Zeitung werden von professionellen Journalisten geschrieben, deren Honorar und den Druck der rund 41 000 Exemplare im Monat finanziert der Verein über seine Verkaufseinnahmen. Am liebsten gelesen aber, sagt Lohr, würden die Texte der Schreibwerkstatt. Jene also, welche die Biss-Verkäufer mit Unterstützung dreier Journalistinnen selbst schreiben.

46 Biss-Verkäufer leben allein von ihren Verkaufseinnahmen, 54 bekommen zudem Sozialhilfe. Und 70 Prozent der Verkäufer können es sich dank Biss leisten, in einer Wohnung zu leben. Güldner und sein Mitbewohner zählten bis vor zwei Jahren zu den verbleibenden 30 Prozent. Bis der Verein ihnen im Winter 2018 anbot, in Fencls selbst gebautes Haus unterhalb des Hohenschäftlarner Kirchturms zu ziehen. Die beiden lebten fortan im Obergeschoss, während Handwerker Böden verlegten und Fenster strichen, eine Gasheizung einbauten und Toiletten austauschten. Ein Jahr ging das so, dann zogen Güldner und sein Mitbewohner runter in das fertig renovierte Souterrain. Nun teilen sie sich Küche und Bad und zahlen rund 400 Euro für ihre Zimmer in schönster Lage. Ob sie sich gut verstehen? "Ab und zu sehe ich ihn in der Küche", sagt Güldner über seinen Mitbewohner und hebt die Schultern. "Er hat die Schnauze voll vom Kochen, hat er gesagt." Es ist Güldners unkomplizierte Direktheit, die zum Lachen bringt. Sein schlichtes "Leben und leben lassen", das er ausstrahlt.

Im Haus ist es still, während Güldner davon redet, dass er morgens nur Kaffee trinkt und bis 16 Uhr aus Prinzip kein Bier. Dass er vor Weihnachten stets nach Dresden fährt, um Stollen zu kaufen für den Verein. Dass Schäftlarn ruhig ist und der nächste Supermarkt weit weg, dass man die Einkaufstüten aus München den Berg hochschleppen muss. Und dann, um die Mittagszeit, erwacht das Haus zum Leben.

Erste Kinderstimmen sind zu vernehmen. Und schließlich schieben oben, ums Eck auf der Terrasse, Afeez und Rahsidat Kadri zwei Stühle vertraut zusammen. Im August sind sie gemeinsam mit ihren sieben Kindern in Fencls Wohnung im Erdgeschoss gezogen. Die beiden reden gerade miteinander. Doch wer sich ihnen nähert, wird umgehend mit einer solch herzerwärmenden Freundlichkeit begrüßt, dass sich unwillkürlich die Frage nach dem Geheimnis des Glückes stellt. "Traumhaus", sagt der 41 Jahre alte Familienvater Afeez Kadri. Dreieinhalb Jahre hätten sie nach einer Wohnung gesucht.

2016 floh Familie Kadri aus Nigeria nach Deutschland. In Höhenkirchen lebte sie in einer Flüchtlingsunterkunft. "Wir hatten nur drei Zimmer und es war alles zu eng", sagt die herbeigerufene älteste Tochter. "Es war sehr laut", sagt die 15-Jährige. Neugierig und artig versammeln sich ihre Geschwister auf der Terrasse. Die jüngste, drei Jahre alt, krabbelt auf den Schoß ihres Vaters.

Rund 30 Meter den Berg hinauf liegt Josef Fencl begraben, zusammen mit seiner Frau und der Tochter, die beide vor ihm gestorben sind. Fencl war 14, als seine Familie im Sudetenland enteignet wurde. Zehn Jahre später kam er nach Hohenschäftlarn. Er war ebenfalls geflohen - wie Familie Kadri.

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Quelle:
SZ vom 21.09.2020
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