Süddeutsche Zeitung

Schäftlarn:Mittelpunkt des Orts

Als Wirtin im familieneigenen Gasthaus hat Hedwig Dröscher einst ganz Schäftlarn gekannt. Nun wird sie 100 Jahre alt

Von Marie Heßlinger, Schäftlarn

Hedwig Dröscher, die derzeit zweitälteste Bewohnerin Schäftlarns, wird an diesem Donnerstag 100 Jahre alt. Zusammen mit ihrem Bruder führte sie das Gasthaus an der Starnberger Straße in Hohenschäftlarn. Rund 25 000 Tage harter Arbeit sitzen in ihren Knochen. Dafür kannte sie eine Dorfgemeinschaft, wie sie heute wohl kein Wirt in Schäftlarn mehr kennt.

"Michi, Schreiber, Seifer . . ." - Hedwig Dröscher zählt die Namen der Landwirte aus ihrer Kindheit auf. Sie kommt auf 16. "Richtige Bauern sind heute nur noch zwei da." Mit vier zog ihre Familie nach Hohenschäftlarn. Ihr Großvater hatte das alte Gasthaus Wendelstein 1890 gekauft. Dröschers Schule war im heutigen Rathaus; das Rathaus dort, wo heute der Schreibwarenladen an der Starnberger Straße ist. Es gab einen Krämerladen und sechs Metzgereien - auch die Dröschers hatten Landwirtschaft mit Schlachthof und Metzgerei. "Griaß God" und "pfia God" grüßten die Schäftlarner - tschüss" gab es nicht. Dafür drei Gasthäuser, die Bahnhofsgaststätte Schle, das Kapuziner und das Dröscher. Zahlreiche Stammtische veranstalteten die Schäftlarner dort. Selbst der Gemeinderat pflegte nach seinen Sitzungen einzukehren. Das Gasthaus Dröscher war das Zentrum eines belebten Ortes.

Hedwig Dröscher wurde von ihren Eltern nie gefragt, was sie werden wolle. Mit 14 begann sie ihre Ausbildung zur Metzgereifachverkäuferin - das musste irgendwie so sein. Täglich, auch an Sonntagen, stand sie fortan um 6 Uhr in der Früh auf, um in der Familienmetzgerei zu helfen. Mittags arbeitete sie im Gasthaus - bis nachts, wenn Sperrstunde war.

Als die Nazizeit anbrach, musste Dröscher in den "Bund Deutscher Mädel" eintreten. Doch dessen Leiterin war jünger als sie. "Wenn die was erzählt hat, hab ich immer das Gegenteil gesagt", sagt Dröscher. Sie habe daraufhin zu Hause bleiben dürfen. Und wenngleich es auch in Schäftlarn einige Nationalsozialisten gab, so erinnert sich Dröscher, hätten die Dorfbewohner die Nazis anfänglich doch eher auf die Schippe genommen. Auf Anordnung der NS-Leute, erzählt Dröscher, habe der Maibaum die Nationalfarben tragen müssen. Die Burschen jedoch hätten ihn blau und weiß umwickelt. Der Bürgermeister, den Burschen wohlgesonnen, kündigte an, die Kasse zur Strafe beschlagnahmen zu müssen. Die Burschen gaben sie ihm, nur war sie eben leer. "Sie sind nach München geflohen und haben das ganze Geld verjubelt", sagt Dröscher und lacht. Dann wird sie ernst. "Die Nazizeit, die lassen wir weg." Mit der Hand macht sie eine Wischbewegung. "Das war. Aus.", sagt sie. "Aus."

Die innigsten Gefühle, so wirkt es, hat Dröscher im Rückblick für den Schützenverein. "Am schönsten waren die Schützenabende", sagt sie. "Weil's halt lustig war." Die Schützen kehrten häufig im Wirtshaus ein, mit 18 trat Dröscher ihrem Verein bei. Sie lernte schießen, "aber nicht gut", sagt sie. "Meine Mama war besser."

Dröschers Mutter, auch sie steckte die Nächte besser weg, wenn sie zusammen bis in die Morgenstunden für Feiergesellschaften kellnerten. Sie tranken dabei stets Kaffee statt Bier. Dröscher sagt: "Die Frau ist der Hauptteil von einer Wirtschaft." Und zu diesem Hauptteil wurde auch sie. Ihr Bruder erbte das Gasthaus. Dröscher bediente jeden Abend, alleine. Nur freitags waren sie zu zweit. Als "bayerische Bilderbuchwirtin" wird sie gerne beschrieben. Zeit für eine beste Freundin oder einen Mann hatte Dröscher deshalb nicht. "Verliebe dich oft, verlobe dich selten und heirate nie!", sagt sie und lacht.

Jungen Verliebten musste sie als Erwachsene Einhalt gebieten: Das "Fensterln" war bei der Jugend eine beliebte Beschäftigung: Burschen stiegen mit Leitern in die Fenster der Mädchen ein. Und in Dröschers Fremdenzimmern fanden sich bisweilen hübsche Mädchen ein. Auch Geschäftsreisende hätten sich eingebucht, um Schweinsbraten zu essen.

Die schönsten Feiern, sagt Dröscher, seien die Faschingsbälle zur Amtszeit von Erich Rühmer gewesen, der 1974 Bürgermeister wurde. Rühmer erinnert sich ebenfalls: "Die waren legendär, die Faschingsbälle am Rosenmontag", sagt er. In den 1950er und 1960er Jahren sei Schäftlarn eine Faschingshochburg gewesen.

"Es ist schade", sagt Rühmer, "weil es so eine richtige Dorfgemeinschaft war, wie es sie heute nicht mehr gibt." Gleiches sagt auch Dröscher. In machen Dingen scheint die Dorfgemeinschaft jedoch auch heute noch zu funktionieren: Der Wirt des "Currywurscht & Co", einst "Gasthaus Dröscher" genannt, macht ihre Einkäufe. Und einen Schweinsbraten bringt er ihr auch manchmal mit.

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SZ vom 23.07.2020
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