Reformarchitektur:Kühne Formensprache

In Kochel, Bad Tölz und Lenggries gibt es Beispielbauten der Klassischen Moderne. Die letzte Bewohnerin des Verstärkeramtes muss allerdings bald ausziehen

Von Kaija Voss, Kochel am See

Bauhaus, für Bauhaus-Sonderseite: Verstärkeramt in Kochel.

Einfache Formen, baumeisterliche Solidität und handwerkliche Qualität: Das zeichnet die Reformarchitektur aus, zu der auch die "Bayerische Postbauschule" gehört. Das Treppengeländer im Kochler Verstärkeramt ist hierfür ein Beispiel.

(Foto: Kaija Voss)

Am Ufer des Kochelsees steht das ehemalige "Ferienheim für Arbeiter, Beamte und Angestellte von Staat und Gemeinden" und spätere Verdi-Bildungsstätte. Es wurde 1930 vom Architekten Emil Freymuth in einer kühnen Formensprache entworfen und 1931 im "Baumeister" veröffentlicht. In den 1950er Jahren entwirft Freymuth in München auch die moderne Siemenssiedlung an der Boschetsrieder Straße.

Doch die Industrialisierung des Bauens hält in den 1930er Jahren Einzug am Alpenrand, hier vermischt sich der Bauhaus-Stil mit Traditionellem. Nach Kochel fahren Arbeiter und Angestellte zur Sommerfrische. Das moderne, weiße Erholungsheim öffnet seine Gästezimmer zum See, die geschwungene Fassade folgt der Topografie, Fensterläden bilden einen Bezug zum alpenländischen Bauen, das Pultdach mit leichter Dachneigung ist fast schon ein Flachdach.

Kaum einen Kilometer entfernt vom Ferienheim steht ein Haus an der Bahnhofstraße, das architektonisch weiter auf dem Weg in die Moderne ist. Es geht um die Reformarchitektur des ehemaligen Kochler Verstärkeramtes, das zur "Bayerischen Postbauschule" zählt. Den technischen Bau, mit Werkstätten und Beamtenwohnungen, erbauten Robert Vorhoelzer und Franz Holzhammer. Mitgewirkt hat Hanna Löv, die erste bayerische Regierungsbaumeisterin - vermutlich sind die Garagen im Hof ihre Abschlussarbeit.

Bauhaus, für Bauhaus-Sonderseite: Verstärkeramt in Kochel.

An der Kochler Bahnhofstraße steht das ehemalige Verstärkeramt.

(Foto: Kaija Voss)

Seit 1965 wohnt Anna Krodel im Kochler Verstärkeramt. Ihr verstorbener Mann war hier Dienststellenleiter der Telekom. 54 Jahre Wohnerfahrung hat sie mit dem Haus. Die langjährige Mieterin bezeichnet es als "liebevollen und schönen Ort". Bis heute ist sie begeistert von der soliden baulichen Qualität des Gebäudes, das im vergangenen Jahr in die Denkmalliste aufgenommen wurde. Neben seinen ästhetischen Werten bietet der Bau von 1927 auch thermischen Komfort, berichtet Krodel. In den sommerheißen Tagen des Jahres müsse sie nur die Fensterläden geschlossen halten, so bleibe die Hitze draußen, nachts könne sie quer durch die Wohnung lüften und das Raumklima auf einfache Art steuern. Schall- und Wärmeschutz sind bei den dicken Ziegelmauern ohnehin kein Thema.

Sorgsam gestaltete Details gehören zum Haus, wie ein Relief aus Unterberger Marmor über der Tür an der Ostseite. Hier wird offenbar eine Brieftaube gefüttert, um sie "stärker" zu machen. Es ist eben ein "Verstärkeramt". In Zeiten des analogen Telefonierens befanden sich hier Relaisstationen, die elektrische Signale über längere Strecken verstärkten. Die Brieftaube steht als Symbol für die Nachrichtenübertragung.

Bauhaus, für Bauhaus-Sonderseite: Verstärkeramt in Kochel.

Das ehemalige Verstärkeramt weist sorgsame Details auf. Doch der letzten Mieterin ist gekündigt, es soll wohl abgerissen werden.

(Foto: Kaija Voss)

Das Konzept der Architekten sah anfangs einen kleinen Garten für jede Wohnung vor, Selbstversorgung - heute würde man es Biogärtnern nennen - war die Devise. Krodel, 87 Jahre alt, hat bis zu diesem Sommer noch einen Gartenanteil gepflegt. Mitte Juli wurden ihr allerdings Garten und Garage von der Gemeinde gekündigt. Anna Krodel, die so sehr gehofft hatte, im Verstärkeramt wohnen bleiben zu dürfen, ist auch die Wohnung im Verstärkeramt gekündigt worden. Offenbar droht noch immer der Abriss des Gebäudes. Für Krodel ist "Betreutes Wohnen" in Penzberg in Aussicht gestellt. Blickt man nur auf ihr Alter, mag es vielleicht eine Alternative sein. Blickt man auf die rüstige Frau, die flott die Treppen auf und ab eilt, kommt man ins Zweifeln. Umso mehr, wenn man sie ansieht, während sie tapfer ihre Lage kommentiert: "Ich gehe ins Exil - viele Könige mussten auch ins Exil - so stelle ich mir das vor."

Dabei gibt es Argumente, die für den Erhalt des Kochler Verstärkeramtes sprechen: Denkmalschutz, Nachhaltigkeit, Klimaneutralität, Begrenzung von Flächenfraß, Umnutzung von Vorhandenem. In die Jahre gekommen hält es dennoch bis heute und zeigt somit seine bauliche Qualität. Eine Frischzellenkur täte dem Haus gut, in Form einer denkmalgerechten Sanierung, dann könnte es weiter bestehen, die nächsten 90 Jahre und länger.

Reform oder Klassische Moderne?

Der Name Reformarchitektur bezeichnet Architekturströmungen um 1900, die sich zwar von historisierenden Formen abwandten, aber an traditionellen Baumaterialien und Bauweisen festhielten. Architekten, die im Reformstil arbeiteten, bevorzugten einfache Formen, baumeisterliche Solidität und handwerkliche Qualität, zum Beispiel die "Bayerische Postbauschule". Die architektonische Moderne der 1920er/1930er Jahre, die auch als Neues Bauen, Neue Sachlichkeit, Funktionalismus oder Bauhausarchitektur bezeichnet wird, möchte mit der Bautradition vergangener Jahrhunderte brechen. Priorität hat zunehmend die Industrialisierung des Bauens. Gestalterisch setzen der Verzicht auf Ornamentik, Flachdächer, geschwungene Gebäudefronten und großzügige Verglasungen neue Akzente. Licht und Luft sollen in die Innenräume gelangen, ein Aspekt gesunden Wohnens. Die Form der Bauten soll sich aus ihrer Funktion ergeben, nach dem Motto des amerikanischen Architekten Louis Sullivan: "form follows function". Die sogenannte "gläserne Ecke", die sich manchmal nur als um die Ecke verlaufendes Fenster zeigt, ist ein Markenzeichen jener Zeit. Dem Bauwerk die Schwere zu nehmen, es leicht und schwebend, mobil statt immobil zu machen, war ein wichtiges Ziel der Moderne - in Abgrenzung von bisherigen Werken der Baukunst wie dem griechischen Tempel oder dem Renaissancepalast. KVO

In Bad Tölz erbaute Robert Vorhoelzer, zusammen mit Karl Schreiber und Hanna Löv, zwischen 1933 und 1934 das Postamt. Es weist eine ähnliche Architektur wie das Kochler Verstärkeramt auf. Weitere Beispiele sind das Postamt von Lenggries aus dem Jahr 1923, in dem heuer die beiden Trachtenvereine "Stamm" und "Hirschbachtaler" ein Domizil gefunden haben.

Informieren über die "Goldenen Zwanziger" in Oberbayern und auch die Postbauten kann man sich in der aktuellen Ausstellung im Freilichtmuseum auf der Glentleiten, einen Katzensprung von Kochel entfernt. Die bayerische Kulturlandschaft wird auch von Bauten der Reformarchitektur und der klassischen Moderne geprägt. Die meisten davon sind inzwischen als Denkmale klassifiziert.

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