Süddeutsche Zeitung

Darsteller aus Bad Tölz:Von falschen und echten Wikingern

Lesezeit: 3 min

Der Tölzer Marinus Jennerwein schlüpft in seiner Freizeit in die Rolle eines Sklavenhändlers aus dem Frühmittelalter.

Von Veronika Ellecosta, Bad Tölz

Der Schnee vom Vortag ist zu Schmelzwasser geworden. In lautem Getöse stürzt es über die Tölzer Dachshöhle hinab ins Bachbett. Trotz Schneeschmelze weht ein eisiger Wind und sorgt für eine besondere Atmosphäre. Und die ist passender Rahmen für die Gruppe in bunter Gewandung und in wendegenähten Lederschuhen, die sich hier für ein Fotoshooting versammelt hat: Eine Schamanin mit krummem Stock ist da, ein Krieger mit eingeflochtenen Perlen im langen Bart und ein Sklavenhändler. Authentizität ist den Menschen bei der Dachshöhle wichtig, immerhin betreiben sie Reenactment, versuchen also, alte Lebensweisen in Auftritt und Kostüm so glaubhaft wie möglich nachzustellen.

Marinus Jennerwein alias der Sklavenhändler löst sich aus der Gruppe: Er trägt einen grauen Klappmantel mit gemusterter Bordüre, eine pelzbesetzte Mütze und eine Bernsteinkette. Die Finger sind mit Runen verziert. Seine Figur trägt den Kunstnamen Halfdan Gunnarson und stammt aus Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein. Im echten Leben kommt Jennerwein, 31, aus Bad Tölz und arbeitet als Koch in Lenggries. In seinem Krug befindet sich wider Erwarten Bier, denn Met, erklärt er, wurde bei den Wikingern nur zu besonderen Anlässen getrunken. Aus hygienischen Gründen wurde verdünntes Bier Wasser im Alltag vorgezogen - seine Getränkewahl sei also auch authentisch, zwinkert er. Im Gespräch mit Marinus Jennerwein geht es oft um das berühmte Kaltenberger Ritterturnier, einem traditionsreichen Mittelalterfest. Schon als kleiner Bub war er davon fasziniert und jedes Jahr in den Besucherrängen, erzählt er. "Zu meiner Schande muss ich sagen, dass mich aber erst die Serie Vikings richtig inspiriert hat." Es folgte: lange Recherchearbeit mit Büchern, Dokumentationen, Internetquellen. Nach dem intensiven Selbststudium sagt Jennerwein: "Schau dir nicht Vikings an, das vermittelt ein falsches Bild von den Wikingern", und nimmt einen Schluck aus dem braunen Krug.

Für Marinus Jennerwein ist das eines der Ziele beim Reenactment: Klischees über in Felle gewickelte, blutrünstige Krieger zu entkräften. Die Nordmänner, sagt er, waren in erster Linie im Handwerk und in der Landwirtschaft aktiv, ernährten sich überwiegend vegetarisch und hüllten sich in Wolle und Leinen. Er bewundert auch ihren Umgang mit Tier und Natur: "Die haben keine Kuh aus reinem Fleischhunger geschlachtet, sondern mit ihren Tieren richtig zusammengelebt, weil sie Milch und Wärme spendeten", erzählt er. Eine glaubwürdige Küche für Wikinger ist deshalb nicht sonderlich fleischlastig - und übrigens auch nicht würzig. Nur Kräuter und Salz kamen in den Topf, sagt Jennerwein. Als Koch interessiert ihn die kulinarische Seite besonders, in Wikingerlagern hat er auch schon versucht, glaubwürdig nachzukochen.

Mittlerweile ist er seit vier Jahren in der Szene verhaftet, hat verschiedene Gruppen und Bruderschaften ausprobiert, und diverse Mittelaltermärkte und Lager besucht, wo Darsteller zusammenkommen, um bei Festen und Umzügen in ihre Rollen zu schlüpfen.

Jennerwein ist auch selbst als Veranstalter aktiv: Diesen Sommer plant er, zum dritten Mal sein Wikingerlager in Penzberg zu veranstalten. Darüber kommt er ins Schwärmen: Die Stimmung bei den Lagern sei gut, Zusammenhalt und die Entschleunigung entwickelten sich, wenn man Handy und Co beiseitelege. Mit seinem Wikingerlager möchte Jennerwein vor allem Interessierten die Möglichkeit geben, ins Reenactment reinzuschnuppern. Außerdem ist er seit zwei Jahren Anwärter in der Gruppe Cullach Cuthach aus dem süddeutschen Raum und ist damit seinem Traum vom Auftritt in Kaltenberg ein Stück nähergekommen. Die Lagergruppe nimmt regelmäßig an den dortigen Ritterspielen teil und wird auch heuer wieder auftreten - dann mit Halfdan Gunnarson, den Jennerwein beim Festumzug verkörpern will. Auch das ist authentisch: Denn Sklaven waren das Haupthandelsgut der Wikinger, erzählt er. Das mache ihm nicht Spaß: Er möchte seine Darstellung nutzen, um auf den weltweiten Menschenhandel aufmerksam zu machen, der heute noch floriert, und ist deshalb im Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen über eine Aufklärungs-Kampagne.

Dann ist es Zeit für das Fotoshooting. Aus Marinus Jennerwein wird Halfdan Gunnarson, dieser nimmt seinen im realen Leben besten Freund Sebastian Sieber, der nunmehr in die Rolle von Vandil Skarfason geschlüpft ist, zum Sklaven: Er schraubt ihm einen Metallring mit einem Stick um den Hals, greift das Ende des Stricks und schreit: "Starker Mann zu verkaufen!" Der Wasserfall aus der Schneeschmelze rauscht daneben ins Bachbett.

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Quelle:
SZ vom 11.02.2022
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