Süddeutsche Zeitung

Gesundheit in Bad Tölz-Wolfratshausen:Defizite im System

Betroffene von psychischen Erkrankungen mussten schon vor Corona lange Wartezeiten erdulden, bis im Landkreis ein Therapieplatz frei wurde. Durch die Pandemie hat sich die Situation verschärft

Von Stefanie Haas

Ein Drittel aller Erwachsenen in Deutschland leidet an einer psychischen Störung. Das hat eine Untersuchung der TU Dresden herausgefunden. Wer versucht, sich Hilfe zu holen, wird jedoch oft mit einer Wartezeit von mehreren Monaten konfrontiert, weil Behandlungsplätze fehlen. Ein Zustand, der sich nun in der Pandemie noch einmal verschärft, auch für Betroffene im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen.

Bei der Diplom-Psychologin Karin Burghofer, die eine Praxis in Bad Tölz betreibt, hat die Nachfrage nach Therapieplätzen definitiv zugenommen: "Die erste Welle war ja eher wie ein Ausnahmezustand, in dem man gehofft hatte, dass er schnell vorüberzieht", erklärt sie. "Aber in der zweiten und dritten Welle wuchs der Bedarf stetig." Auch der Tölzer Diplom-Psychologe Andreas Schaumberg berichtet von Schwierigkeiten, Patientinnen und Patienten unterzubringen. So sei es ihm teilweise erst nach vier bis sechs Monaten möglich, mit dem eigentlichen Therapieangebot zu beginnen. Für die beiden Therapeuten nichts Neues: Lange Wartezeiten von bis zu mehreren Monaten habe es schließlich schon vor der Pandemie gegeben. Doch nun wachse es sich zu einer eigentlich "unzumutbaren Situation" aus, weil sich viele in einer akuten Notlage befänden, erklärt Burghofer.

Was den Patientinnen und Patienten zu Schaffen macht, ist laut Schaumberg sehr vielfältig. Am häufigsten kämen Menschen in seine Praxis, die mit Depressionen und Angststörungen sowie den dazugehörenden Symptomen Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit zu kämpfen haben. Pandemiebedingt gingen damit Existenzängste, soziale Phobien sowie Probleme durch Kontaktverbote und andere Beschränkungen einher.

Auch im stationären Bereich steigt die Anzahl an Patientinnen und Patienten, berichtet Markus Reicherzer, Chefarzt der Kirinus Schlemmer Klinik in Bad Tölz. Eine der häufigsten Diagnosen, die depressive Störung, gehe häufig mit klassischen Belastungen wie Stress am Arbeitsplatz oder familiären Konfliktsituationen einher. "Diese Belastungen kommen durch Corona jetzt häufiger vor", sagt Reicherzer. Gerade Home-Office oder Home-Schooling hätten darauf einen großen Einfluss. Bei älteren Menschen käme insbesondere das Problem der Isolation hinzu. "Und dabei brechen gleichzeitig ja auch viele Möglichkeiten weg, die einen stützen und stabilisieren könnten", fügt Burghofer hinzu. Das beträfe alle sozialen Kontakte und Aktivitäten, durch die eigentlich ein Ausgleich möglich wäre.

Theoretisch ließe sich der gestiegene Be-darf durch ein entsprechendes Therapieangebot auffangen. Schaut man in den Versorgungsatlas der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB), dann heißt es dort, dass der Landkreis mit 144 Prozent sogar überversorgt ist. Es müsste also eigentlich genug Kapazitäten geben. Auf Nachfrage erklärt Martin Eulitz, Pressesprecher der KVB, die Bedarfsplanung: Sobald ein Bereich überversorgt ist, sind neue Niederlassungen - gemeint ist die Abrechnung über die Krankenkassen - nicht mehr möglich. Jedoch sähe die Situation anders aus, wenn man sich die Tätigkeiten der einzelnen Therapeutinnen und Therapeuten genauer ansieht. "So haben nur rund ein Drittel der Psychotherapeuten einen vollen Versorgungsauftrag, über die Hälfte haben einen halben und weitere von diesen einen Viertel-Versorgungsauftrag beziehungsweise sind Job-Sharing-Partner", so Eulitz. Das heißt also, dass trotz übermäßiger Kassenzulassungen die wenigsten genügend Kapazitäten haben, um entsprechend viele Patientinnen und Patienten zu behandeln. Gleichzeitig können aufgrund der "Überversorgung" keine neuen Kassenzulassungen erteilt werden, um den Bedarf zu decken. Die verbliebenen Therapeutinnen und Therapeuten können also ihre Dienste anbieten - Betroffene müssen dies aber aus eigener Tasche bezahlen.

Obwohl in dieser Planung die Folgen der Pandemie noch gar nicht miteinberechnet sind, bestehe großer Handlungsbedarf. "Jährlich erleidet nahezu jede dritte Person in Deutschland eine psychische Erkrankung", so Schaumberg. "Auch die Folgen dieser Erkrankungen belasten volkswirtschaftlich gesehen nicht nur Oberbayern, sondern ganz Deutschland und die EU mit Milliardenkosten." Verstärkt werde dieser Trend durch die Auswirkungen der Pandemie, meint der Diplom-Psychologe und verweist auf ein weiteres Risiko: Der damit einhergehende Stress könnte auch konkrete körperliche Folgen haben, wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Reicherzer geht noch einen Schritt weiter: "Was wir noch nicht wissen, sind die direkten psychischen Schäden von Corona." Es würden zunehmend Beschwerden beobachtet, die als das sogenannte Post-Covid-Syndrom beschrieben werden. "Aktuell sind die Daten noch zu unsicher, aber man kennt solche Folgen aus anderen Pandemien, zum Beispiel chronische Müdigkeit oder Angst, Schlafstörungen, Depressionen." Das sei derzeit noch etwas spekulativ, werde aber beobachtet.

Burghofer hofft darauf, dass sich bald et-was ändern wird: "Ich bin mir absolut sicher, dass uns die Corona-Pandemie noch sehr lange und vor allem sehr intensiv beschäftigen wird." Die Krise offenbare nun schonungslos die Defizite im System: "Bereits vorher gab es nicht genügend Behandlungsplätze und in der Krise wird sich die Situation noch einmal deutlich verschärfen."

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SZ vom 04.05.2021
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