Zwei Frauen bedecken ihr Haupthaar mit Kopftüchern. Den sorgfältigen, langsamen Bewegungen sieht man an, dass sie das nicht jeden Tag tun. Doch heute gebietet es sich, obwohl es ihnen niemand vorschreibt: Den Tag der offenen Moschee nutzen viele, um einen Blick in die Räume zu werfen, in denen Muslime beten. Der Tag bietet Raum zur Begegnung, die Möglichkeit, etwas zu erfahren, das vielfach immer noch als etwas schlechthin Anderes wahrgenommen wird und vor allem zum lebendigen Austausch in konfliktreichen Zeiten.
Dass der Austausch zustande kommt, ist nicht zuletzt Benjamin Idriz zu verdanken. Er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führen den ganzen Tag durch die Moschee in Penzberg, den Gebetsraum, dessen Wände die Namen Gottes in arabischer Kalligraphie zieren und den Konferenzraum, in dem auch Bundespräsident Steinmeier gesprochen hat. Aber auch Idriz’ Büro ist geöffnet. „Mir ist das vorher gar nicht aufgefallen, aber seine Tastatur hat auch arabische Schriftzeichen!“, sagt Ayten Verep, eine seiner Mitarbeiterinnen.

Für den islamischen Theologen Idriz ist die Auseinandersetzung mit den arabischen Originalschriften Ausgangspunkt seiner Arbeit und so beginnt das offizielle Programm des Tags, abgesehen von den zahlreichen Führungen durch die Räume, mit dem traditionellen Mittagsgebet. „Der liebe Gott hat dir eine schöne Stimme gegeben“, sagt Idriz zu einem der anwesenden Männer. Er fängt an zu singen. Schließlich tritt der Imam in die Gebetsnische. Er rezitiert auf Arabisch, hinter ihm die blaue Glaswand der Moschee, vor ihm die Gemeinde und die knapp zwanzig Interessierten, die sich eingefunden haben. Woher er sei, wird der Imam später einen Mann fragen, der mit Frau und Kindern die Moschee besichtigt. „Aus München“, so die Antwort. „Ja, so eine schöne Moschee haben Sie da nicht“, sagt der Imam lachend.
Keine solche Moschee und auch keinen Imam mit solcher Breitenwirkung. Umso wichtiger ist es Idriz, den Tag der offenen Moschee zu nutzen, um seine Friedensbotschaft zu artikulieren. An das Mittagsgebet schließt er deshalb einen kurzen Redebeitrag, der das Motto des Tages aufgreift: „Jedes Leben zählt.“ Benjamin Idriz erklärt die Koranverse, die er eben auf Arabisch vorgetragen hat: Wenn jemand einen Unschuldigen tötet, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. „Im Islam ist jedes Leben heilig und schützenswert“, erklärt der Imam und appelliert daran, den Tag zu nutzen, um über die Bedeutung des Lebens nachzusinnen, unabhängig von religiösen Überzeugungen. Darin unterstützt ihn Stefan Korpan: „Man ist halt zusammen im Sportverein und der Schule, da darf der Glaube kein Grund sein, wieso da Distanz ist“, sagt der Penzberger Bürgermeister.

Wieder in Schuhen macht man sich auf zum Saal, in dem Tee und Gebäck bereitstehen. Einem Kind erklärt der Imam Simit, die türkischen Sesamkringel. „Das ist wie eine türkische Brezn.“ Insgesamt sei das Interesse größer als im vergangenen Jahr, meint Idriz. Er sei sich zunächst nicht sicher gewesen, wie sich die aktuelle Situation auswirke. „Aber es ist ein positives Interesse da, auch viele Eltern mit Kindern kommen. Die sagen ‚Ich will, dass mein Kind in einer Umgebung aufwächst, in der Vielfalt geschätzt wird‘. Diese Toleranz muss weitergegeben werden.“ Der Imam verweist auf die Ergebnisse der Landtagswahlen im Osten Deutschlands. „Wenn auch junge Menschen rechtsradikal wählen, das macht mir und vielen Muslimen… nicht gerade Angst, aber es gibt eine Unsicherheit. Wie sieht die Zukunft dieses Landes aus? Es ist auch die Aufgabe der Kirchen, den Nachwuchs so zu erziehen, dass wir nicht spalten dürfen.“
Gerne hätte Idriz deshalb auch die Einladung von Guy Katz angenommen. Der Münchner Hochschulprofessor hatte Idriz vor wenigen Tagen noch zur Demonstration „365 Tage – München gegen Antisemitismus“ eingeladen, die am Sonntag, 6. Oktober, von 16 Uhr an auf dem Odeonsplatz stattfindet. Dort werden etwa Ministerpräsident Markus Söder und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprechen. Doch die Einladung kam für den Imam zu kurzfristig. Er habe noch versucht, die Termine zu verschieben – zumal eine seit Monaten geplante Trauung, die er durchführt – aber es ging nicht. „Ich bedaure das sehr“, sagt er mehrmals. Doch es bleibt auch Skepsis. „Ich weiß nicht, woran das lag. Das wurde doch nicht erst jetzt organisiert. Den Ministerpräsidenten haben sie wahrscheinlich nicht vor einer Woche angefragt.“ Zudem ging aus Katz’ Einladung für den Imam nicht klar hervor, ob er nur als Zuschauer da sein sollte oder auch Gelegenheit zu einem Redebeitrag bekommen hätte. Daran wäre ihm sehr gelegen gewesen.

Was er in München gesagt hätte? „Es gibt nur zwei Themen: Die Befreiung der israelischen Geiseln. Aus islamischen Prinzipien ist das eine sehr gute Tat. Mohammed fordert, Gefangene freizulassen. Das andere ist der Antisemitismus. Wir leisten hier in Penzberg Aufklärungsarbeit mit Jugendlichen, damit sie erkennen, was uns verbindet. Und dass das Judentum eine wichtige Rolle in der Offenbarung des Islam spielt.“ Dennoch äußert er Kritik: „Was ich vermisst habe in der Einladung ist eine Initiative, dass der Krieg gestoppt werden muss, diese Gewaltspirale. Wenn das nicht Thema ist, dann, glaube ich, hat die Veranstaltung ihren Sinn nicht verstanden.“ Dazu hätte es einer muslimischen Stimme bedurft: „Von mir oder von einem anderen Imam. Haben die keinen einzigen Ansprechpartner gefunden?“
Es geht Idriz darum, jenseits des polarisierten Denkens zur Verständigung zur finden. Deshalb hat er vor ein paar Tagen auch die Münchner Synagoge besucht. „Auch die pro-palästinensischen Demos haben kein Gefühl für die andere Seite“, sagt er. Dass es in dieser Debatte auf jedes Wort ankommt, wird auch an diesem Tag klar. In seiner Ansprache nach dem Mittagsgebet sagte Idriz diesen Satz: „Wir denken an das Leid der Menschen, in Gaza, im Westjordanland, im Libanon, der Ukraine, überall auf der Welt.“ Im Anschluss sagt ihm eine Frau, sie hätte sich gewünscht, dass er auch Israel erwähne. Der Imam ist verwundert, das sei doch generell das Thema gewesen, auch wenn er das Land dann nicht mehr explizit genannt habe. Es entspinnt sich eine sachlich temperamentvolle Diskussion über Themen wie Rache („Rache ist im Islam eine Sünde“, so Idriz), über die Trennung von Staat und Religion, die der Imam strikt fordert, über die Sicherheitslage und über politische Lösungen. „Es wird eine Lösung geben, aber dazu müssen sich beide Lager vom Extremismus verabschieden. Die gemäßigten Kräfte, wo sind die?“, fragt Idriz.
„Die Waffen müssen endlich ruhen“
Für den in Deutschland wirkenden Theologen steht die Frage nach dem Leid der Menschen im Zentrum. „Gestern kam ein Mitglied meiner Gemeinde zu mir und hat gesagt: ‚Mein Vater hat als Palästinenser in Syrien gelebt, er ist über 80 Jahre alt und war immer Flüchtling, der hat nie was Anderes erlebt.‘ In meiner Gemeinde wird wenig so über politische Fragen gesprochen, wie wir das jetzt tun, sondern über das Leid. Das bewegt viele.“ Ja, das Thema sei komplex, sagt der Imam, doch auch in der Diskussion um die Zwei-Staaten-Lösung, die er für richtig hält, argumentiert er theologisch. In bestechender Klarheit: „Heilig ist nicht ein Stück Land, heilig ist der Friede.“
„Tretet hinein in Frieden und Sicherheit“ — der Koranvers fällt den Besucherinnen und Besuchern der Moschee sofort ins Auge. Auf Arabisch und Deutsch steht er an einer Mauer gegenüber der Tür geschrieben. Der Wunsch nach Frieden und die gleichzeitige Einsicht in die Schwierigkeiten, diesen Frieden zu sichern, belebt die Gespräche an diesem Tag. „Wenn wir das nicht schaffen, wird das Folgen für alle auf der Welt haben. Die Probleme sind so komplex, aber unter Beschuss kann man sie nicht lösen. Die Waffen müssen endlich ruhen“, sagt Benjamin Idriz.