Süddeutsche Zeitung

Penzberg:Eine von Deutschlands ersten Tierärztinnen

Der Penzberger Denkmalpflegeverein kämpft um den Erhalt des ehemaligen Schlachthofs. Dort wohnte und arbeitete einst Renate Ross-Rahte - eine Frau mit spannender Geschichte.

Von Alexandra Vecchiato

Von außen kündet nichts von seiner historischen Bedeutung. Der ehemalige Schlachthof der Stadt Penzberg ist runtergekommen. Sein Abriss ist beschlossene Sache, obschon das Objekt Teil des Geschichtslehrpfades ist. In dem Haus lebte einst Renate Ross-Rahte (1915 bis 2004). Der Name dürfte vielen nichts sagen - außer jenen vielleicht, die sich an Bücher aus Kindheitstagen erinnern wie "Stefan und die Pferde". Doch Ross-Rahte war nicht nur zu ihrer Zeit viel gelesene Jugendbuchautorin. Sie war eine der ersten Tierärztinnen Deutschlands und 25 Jahre lang veterinärmedizinische Leiterin des Penzberger Schlachthofs.

Wenn das Gebäude an der Karlstraße 6 selbst erzählen könnte ... Da dies nicht möglich ist, übernimmt der Verein für Denkmalpflege und Penzberger Stadtgeschichte das Erinnern - in der Hoffnung, die Abrisspläne vielleicht noch verhindern zu können. Für den Verein hat sein Mitbegründer, Historiker und diesjähriger Kulturpreisträger der Stadt, Reinhard Heydenreuter, die Geschichte von Renate Ross-Rahte zusammengetragen. Sie lebte von 1944 bis 1970 in Penzberg. Ihren Lebensabend verbrachte sie auf dem Landgut ihrer Familie in Österreich.

Schreiben war ihr in die Wiege gelegt als Tochter des Reiseschriftstellers Colin Ross (1885 bis 1945). Renate Ross-Rahte verfasste nicht nur Jugendbücher. Sie, die Spezialistin für Pferdekrankheiten, schrieb Fachaufsätze und übersetzte englischsprachige Literatur in den Bereichen Biologie und Tiermedizin. Nach ihrem Abitur 1932 studierte die junge Renate Ross in der Schweiz und in Berlin Zoologie. Als sie ihre Eltern in den USA besuchte, bot ihr das zoologische Institut in Chicago ein Stipendium an. Ihre Abschlussarbeit hatte den Geschlechtszyklus von weiblichen Ratten zum Thema. 1936 kehrte sie nach Deutschland zurück. Ihre Arbeit wurde als Dissertation anerkannt und sie erhielt den Titel Dr. phil. verliehen. Im Herbst desselben Jahres begann sie in München, Tiermedizin zu studieren an der Ludwig-Maximilians-Universität - damals als einzige Frau.

In Landsberg an der Warthe machte sie ein Praktikum am Schlachthof. Sie heiratete und zog mit ihrem Mann nach Mecklenburg. 1945 floh sie allein nach Bayern, wo sie in Penzberg die Praxis eines Freundes übernahm wie auch die Betreuung des Schlachthofs. In der Region erwarb sie sich schnell einen guten Ruf als Pferdetierärztin. Als 1970 der Penzberger Schlachthof schloss, zog sie mit ihrem zweiten Ehemann nach Österreich.

Renate Ross-Rahte entstammt einer interessanten schleswig-holsteinischen Gelehrtenfamilie. Landschaftsmaler, einen Archäologen und Arzt brachte diese hervor. Sogar der schottische Polarforscher John Ross soll ein entfernter Verwandter sein. Aber zuletzt war es ihr Vater, der wegen seiner Nähe zum Nazi-Regime Bekanntheit erlangte.

Colin Ross war vielseitig interessiert. Er studierte Bergbau und Maschinenwesen. Später folgten Volkswirtschaft und Geschichte. Er promovierte 1910 in Heidelberg und wurde Privatsekretär von Oskar von Miller. In dessen Auftrag reiste er erstmals in die USA. Ross war später Kriegsberichterstatter während der Balkankriege. Nach dem Ersten Weltkrieg wanderte er mit Ehefrau Lisa und Tochter Renate, geboren 1915 in Karlsruhe, nach Südamerika aus. Dort kam Renates Bruder Ralph zur Welt, der 1941 in Russland starb. Viele Reisen sollten folgen. Colin Ross wurde einer der bekanntesten deutschsprachigen Reisejournalisten, schrieb Brockhaus-Bestseller und drehte Filme, die seine Tochter dem Österreichischen Filmarchiv in Wien schenkte.

Dass Renate Ross-Rahte Penzberg als Zufluchtsort wählte, mag kein Zufall sein. Ihre Eltern lebten seit 1944 am Walchensee. Sie waren eng mit der Familie von Schirach befreundet. Gemeinsam mit Reichsjugendführer und Wiener Reichsstatthalter Baldur von Schirach, der seit 1936 auf Schloss Aspenstein in Kochel am See residierte, formte Colin Ross die ideologische Struktur der Hitlerjugend.

Zwar verurteilte Ross die Judenverfolgung, doch sagte er sich nicht vom Nationalsozialismus los. Als klar war, dass Deutschland den Krieg verloren hatte und die Alliierten vorrückten, begingen Colin Ross und seine Frau am 29. April 1945 im Landhaus der Schirachs in Urfeld Suizid. Begraben wurden sie dort im Garten. In einem Artikel im Spiegel aus dem Jahr 1949 werden die letzten Stunden von Colin Ross beschrieben, wie auch, dass seine Tochter zum Begräbnis aus Penzberg gerufen worden sei.

Henriette von Schirach widmet in ihren Erinnerungen "Im Bann der falschen Herrlichkeit" ein Kapitel dem Ehepaar Ross. "Tod im April" ist es überschrieben. Das Ehepaar Ross, so schreibt Henriette von Schirach, die Tochter von Hitlers Lieblingsfotografen Heinrich Hoffmann, habe sie zum "Abschiedsessen" eingeladen. "Eigentlich bin ich zu neugierig zum Sterben", zitiert sie Ross. Später soll er erklärt haben: "Du verstehst doch, dass wir sterben wollen ... Internierungslager ist kein guter Schluss für ein Reiseleben. Für uns ist der Tod ein neues Abenteuer."

Der Zweite Weltkrieg war vorbei. Als die Amerikaner in Penzberg einzogen, soll Renate Ross-Rahte dank ihrer Englischkenntnisse eine große Hilfe bei der Verständigung gewesen sein, betont Reinhard Heydenreuter. Er hat noch etwas herausgefunden: Renate Ross-Rahte korrespondierte von Penzberg aus unter anderem mit dem Philosophen Karl Jaspers und dem Physiker Werner Heisenberg. Wenn der ehemalige Schlachthof selbst erzählen könnte ... Aber im kommenden Jahr soll das 120 Jahre alte Gebäude abgerissen werden. Es muss einem Parkplatz weichen - vorerst zumindest. Das hat der Stadtrat beschlossen. 350 000 Euro soll der Abbruch kosten, 150 000 Euro der neue Interimsparkplatz.

"Dass ein Baudenkmal wie der Schlachthof, der im Laufe seines über hundertjährigen Bestehens, besonders aber in den letzten Jahren rücksichtslos verbaut und verschlampt wurde, auch einmal wieder in seine alte solide Schönheit zurückgebaut werden könnte, sollte mehr als eine Überlegung wert sein", sagt Kulturpreisträger Heydenreuter. Auch gelte es, das Andenken einer mutigen Frau zu bewahren. Zumal Penzberg in Hinblick auf "starke Frauen" ein auffälliges Defizit in seiner Erinnerungskultur aufzuweisen habe.

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SZ vom 28.12.2020
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