Stadtentwicklung:Penzbergs Identität

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So sah die Bahnhofstraße, damals noch Sindelsdorfer Straße, in Penzberg im Jahr 1938 aus. Links im Bild das kleine Menagehaus, im Anschluss das größere Menagehaus oder Ledigenheim. Im Hintergrund ist der Turm der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Barbara-Kirche zu sehen. (Foto: Stadtarchiv Penzberg/oh)

Das Quartier mit dem historischen Menagehaus an der Bahnhofstraße soll überplant werden. Für Rudi und Edeltraud Sperl wäre ein Abriss des Gebäudes ein großer Verlust.

Von Alexandra Vecchiato, Penzberg

Penzberg hat keine pittoreske Marktstraße wie Bad Tölz oder eine jahrhundertalte Klostertradition wie Benediktbeuern. Und doch hat die Kleinstadt in Oberbayern etwas zu erzählen. Die Gebäude, die von dieser Geschichte zeugen können, verschwinden allerdings nach und nach aus dem Stadtbild. Eines der letzten ist das Menagehaus, das als Wohnhaus für Bergarbeiter an der Bahnhofstraße errichtet wurde. In einigen Jahren soll das Quartier entwickelt werden, wie es im Architektensprech so schön heißt. Ein Abriss scheint nicht unwahrscheinlich. Dagegen formiert sich leise Widerstand.

Die Zukunft des geschichtsträchtigen Menagehauses ist offen. (Foto: Manfred Neubauer)
Alte Ansicht des Menagehauses. In allen Geschossen gab es ursprünglich Wohnungen, selbst im feuchten Souterrain auf der Rückseite. (Foto: Stadtarchiv Penzberg/oh)

Zeitzeugen sind Menschen, die über historische Ereignisse berichten können, da sie in der betreffenden Zeit gelebt haben. So die allgemeine Definition. Für Rudi Sperl ist sie zu kurz gegriffen. Zeitzeugen, sagt der Penzberger, das können auch Gebäude sein, eben Häuser mit Geschichte. Das Menagehaus an der Bahnhofstraße 21 ist so eines. Rudi Sperl ist dort aufgewachsen. So manche Anekdote kann er erzählen aus jenen Tagen, als das Bergwerk das Leben in Penzberg bestimmte. Die Bahnhofstraße, früher Sindelsdorfer Straße, säumte damals noch eine Kastanienallee. Gegenüber dem Menagehaus pflegten die Anwohner gemeinschaftlich ein Rosenbeet. Wer unter Tage arbeitet, der sehnt sich nach Farben und Düften unter freiem Himmel. Bänke standen dort, wo sich die Menschen zum Ratschen trafen.

Rudi Sperl als Bub. (Foto: Privat/oh)

Als Bub lebte der heute 76-Jährige mit seinen Eltern auf der einen Seite mit Blick auf die Bahnhofstraße; auf der anderen Seite befand sich die Wohnung der Großeltern. Das "große" Menagehaus - es gab ein zweites, kleineres daneben - wurde zwischen 1875 und 1899 erbaut. Wie viele Häuser in Penzberg von Italienern. Pietro Manini hieß der Maurermeister aus Coll`Alto laut dem alten Gewerbe-Anmelde-Register der Stadt, der mit seinem Trupp in kürzester Zeit 30 Werkswohnhäuser in Penzberg errichtet haben soll. Etwa um 1901 wurde das Menagehaus um ein Rückgebäude erweitert. Der Name stammt aus der Bergwerkszeit. Menage bezeichnet ein Gebäude zur Unterkunft und Verpflegung lediger Arbeiter. Die Küche befand sich im Keller, erinnert sich Rudi Sperl. In den 1920er-Jahren wurden im Menagehaus vor allem unterernährte Kinder von Bergarbeitern verpflegt. Von 1921 bis 1924 fand die sogenannte Quäkerspeisung statt, mit Spenden dieser Glaubensgemeinschaft.

Ende der 1960er-Jahre erwarb Xaver Mühlpointner das Gebäude und baute es zu einem Ärztehaus um. Viele Jahre arbeitete Sperls Ehefrau Edeltraud in einer der Praxen. "Ich habe oft die Oma meines Mannes besucht, die noch im Menagehaus wohnte", erzählt sie.

Penzberger Mordnacht: Das Menagehaus war ein Schauplatz

Die Stolpersteine vor dem Menagehaus erinnern an Franz Biersack und Johann Summerdinger. Beide wurden in der Nacht des 28. April 1945 von "Werwolf"-Mitgliedern aus dem Haus verschleppt und erhängt. (Foto: Alexandra Vecchiato/oh)

Das Menagehaus war ein Schauplatz der Penzberger Mordnacht am 28. April 1945. Franz Biersack und Johann Summerdinger werden von Mitgliedern der NS-Organisation "Werwolf" nachts gegen 22 Uhr aus ihrem Wohnhaus verschleppt. Biersack wird am Balkon eines Nachbarhauses erhängt, Summerdinger an einem Lindenbaum. Auch Rudolf Duller stand auf der Namensliste des Terrorstrupps. Doch ihm gelang die Flucht. Bildhaft schildert Rudi Sperl, wie sein Großvater mütterlicherseits auf der Rückseite des Hauses zu einem gewagten Sprung ansetzte. Das Glück in Form eines offenen Toilettenfensters war Rudolf Duller hold. Er sprang aus einem Fenster der Familienwohnung im zweiten Stock rüber zum gegenüberliegenden Fenster und floh über das Treppenhaus des Rückgebäudes ins Freie. Als Junge ahmte Rudi Sperl den Opa nach. "Da muss man zuerst mit einem Bein rüber und den Arm um das Fensterkreuz schlingen."

An der Ecke, wo Vor- und Rückgebäude des Menagehauses aufeinandertreffen, kam es in der Nacht des 28. Aprils 1945 zu einer waghalsigen Szene. Rudolf Duller, der Großvater von Rudi Sperl (im Bild), sprang von einem Fenster zum anderen und entkam so den Nazi-Schergen. (Foto: Manfred Neubauer)

Das Toilettenfenster ist nicht mehr das originale. "Da oben war es", zeigt der 76-Jährige nach oben. Es sei reines Glück gewesen, dass sein Großvater rechtzeitig gewarnt worden war. Andere Penzberger hätten nicht so viel Glück gehabt.

Es gibt Geschichten, die so unwirklich erscheinen, dass sie bestenfalls Stoff für einen Film von Quentin Tarantino sein könnten. Und doch sind sie erschreckend real. Ein 18-jähriger Soldat der Waffen-SS entdeckt in Frankreich irgendwo an einem Waldrand einen Mann, der gebückt Pilze sucht. Für den Deutschen steht fest, dass es sich um ein Mitglied der Résistance handeln muss, also um einen Feind. Doch zögert er zu schießen. Dann begegnen sich beider Blicke. Es sind Vater und Sohn. "Das hat sich so zugetragen", erzählt Rudi Sperl. Der Penzberger muss es wissen, handelt es sich doch bei den beiden Protagonisten um seinen Vater und den Großvater väterlicherseits.

Josef (Franz) Raab kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und schloss sich anschließend der Résistance in Frankreich an. Von den US-Amerikanern wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg kommissarisch zum Bürgermeister der Stadt Penzberg ernannt. Dieses Ausweisdokument aus Frankreich hält die Familie Sperl in Ehren. (Foto: Alexandra Vecchiato/oh)

Auf diesen Großvater ist Rudi Sperl besonders stolz. Josef Raab, der seinen Vornamen in Franz änderte, war 1933 als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) von den Faschisten zum Tode verurteilt worden. Er floh und schloss sich der XI. Internationalen Brigade an. Raab war zeitweise Kommandeur des Thälmann-Bataillons und kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg gegen die "Franquisten", die Anhänger des Generals Francisco Franco. Mehrmals wurde er festgenommen, nach dem Spanischen Bürgerkrieg wurde er in ein Konzentrationslager nach Frankreich gebracht, aus dem er ausbrach und sich der Résistance anschloss.

"Er imponiert mir sehr", erzählt Edeltraud Sperl. Die 70-Jährige verfasst eine Biografie über den Großvater ihres Ehemannes. Beide haben die Orte in Spanien und Frankreich besucht, wo Franz Raab gekämpft und gelebt hatte. Raab kehrte Anfang Juni 1945 nach Penzberg zurück. Seine Gesundheit hatte durch die Strapazen in den Kriegsjahren und die Internierung sehr gelitten. Da er als Kommunist über jeden Verdacht erhaben war, mit den Nationalsozialisten sympathisiert zu haben, wurde er kommissarisch als Bürgermeister in Penzberg eingesetzt. Er hatte dieses Amt vom 21. Juni 1945 bis zum 29. Januar 1946 inne. Nach der Kommunalwahl war er Stadtrat (KPD). An der Wankstraße hatte er ein kleines Café, das auch nach dem Verbot der KPD im Jahr 1956 als "Kommunistentreff" bekannt war. Im Alter von 72 Jahren starb Josef Raab.

"Die Bürger sollen stolz auf ihre Stadt sein"

"Das ist Penzbergs Geschichte", sagt Rudi Sperl, der in der IT-Abteilung bei Eagle Burgmann in Wolfratshausen tätig war. Die Aufmüpfigkeit der Bürger in der Stadt - egal, ob gegen die Obrigkeit im Bergwerk oder gegen das Hitler-Regime. Aber diese Geschichte lasse sich seiner Meinung nach eben nicht nur durch Personen lebendig halten. "Es müssen die Gebäude aus jener Zeit auch erhalten bleiben." Vergangenheit und Moderne müssten verwoben werden. Erst dann, so ist sich Rudi Sperl sicher, entstehe eine "familiäre Atmosphäre", sodass sich "alte und neue Bürger" in Penzberg wohlfühlten und stolz auf ihre Stadt sein könnten. Stattdessen, so befürchtet er, seien "Stadtführung" und Investoren bestrebt, möglichst viele dieser Zeitzeugen-Gebäude abzureißen und durch gesichtslose Neubauten zu ersetzen. "Es wird nicht beim Menagehaus bleiben. Der Bayerische Hof mit seinem Kastaniengarten wird bestimmt folgen", sagt Rudi Sperl.

Blick auf die Penzberger Innenstadt mit Bahnhofstraße. Zu sehen ist auch das Menagehaus (Mitte). Das Quartier soll entwickelt werden. (Foto: Stadt Penzberg/oh)

Seit dem Verkauf an das Immobilienunternehmen "Bayernwohnen" ist das Menagehaus mitsamt Umgriff Gegenstand von Spekulationen. Sicher ist, dass der Investor das Areal in ein paar Jahren entwickeln möchte. Ein Abriss scheint demnach nicht unwahrscheinlich. Auch wenn noch keine konkreten Pläne für das mehr als 4000 Quadratmeter große Quartier bekannt sind, sammelt der Verein für Denkmalpflege und Penzberger Stadtgeschichte vorsorglich Unterschriften für den Erhalt des Menagehauses. Etwa 400 Unterschriften sind es mittlerweile. Die Listen sollen nicht nur im Rathaus abgegeben werden. Der Verein möchte sie auch der "Bayernwohnen" zukommen lassen.

Penzberg werde immer als hässliche Bergarbeiterstadt verunglimpft, sagt Rudi Sperl. Aber das stimme nicht. "Penzberg hat eine eigene Vergangenheit, auf die die Stadt stolz sein kann", betont er. Stets habe es die Stadtgesellschaft geschafft, andere Nationen zu integrieren - schon zu Bergwerkszeiten, als vor allem aus dem osteuropäischen Raum Arbeiter nach Penzberg kamen. Damals seien eben "einfache Häuser" errichtet worden, um Wohnraum für die vielen Bergarbeiter zu schaffen. "Aber das ist halt nun einmal die Geschichte unserer Stadt!"

Planungswerkstatt für die Bahnhofstraße

Sollten "Zeitzeugen" wie das Menagehaus weiterhin verschwinden, sei Penzberg auf dem Weg zur Anonymität, betont Rudi Sperl. "Die Stadt verliert ihre Identität." Der 76-Jährige erinnert an all die historischen Gebäude, die abgerissen wurden wie die Grubenschänke, der Staltacher Hof oder das Höck-Haus.

Im Rathaus plante man einen Leitbild-Wettbewerb für die Innenstadt, der auch das Quartier mit dem Menagehaus umfassen sollte. Projektträger und Architekten sollten an dem Prozess beteiligt werden, wie auch die Bürger. Kürzlich beschloss der Bauausschuss, diesen Wettbewerb anders aufzuziehen. Stadtbaumeister Justus Klement begründete die Neuausrichtung damit, dass die Experten, die den Wettbewerb betreuen, sich sicher seien, dass teilnehmende Architekten sich vor allem auf das Menagehaus-Quartier oder das Areal des Bayerischen Hofs, das in einigen Jahren ebenfalls entwickelt werden soll, konzentrieren würden und der Leitbild-Gedanke zu kurz käme.

Stattdessen soll es jetzt eine Planungswerkstatt geben mit dem Ziel, ein Leitbild zu erhalten, das die Grundlage für Entscheidungen bei Bauvorhaben an der Bahnhofstraße ist. Die Ergebnisse aus der Werkstatt, bei der die Penzberger mitreden dürfen, könnten in ein Gestaltungshandbuch oder Bebauungspläne einfließen, an das sich künftige Bauherrn strikt halten müssten, so Klement.

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