Süddeutsche Zeitung

Noch eine Veränderung am Karl-Lederer-Platz in Geretsried:Ein neues Kapitel

Lesezeit: 5 min

Familie Ulbrich übergibt nach 46 Jahren ihre Buchhandlung an den großen Filialisten Osiander. Der Online-Markt und die Verödung von Innenstädten setzen viele inhabergeführte Läden unter Druck

Von Felicitas Amler, Geretsried

Was waren das für Zeiten! Die kleine rote Mao-Bibel an der Kasse und dazu Sponti-Sprüche aus dem Eichborn-Verlag: "Ich geh' kaputt, gehst du mit?" Längst vorbei. Heute stehen im Kassenbereich der Buchhandlung Ulbrich kleine Ständer mit hübschen Lesezeichen, es liegen Wanderkarten aus ("200 Traumpfade") und natürlich der neueste Eberhofer-Krimi von Rita Falk im aufgebrezelten Bestseller-Design.

Silvia Ulbrich, Seniorchefin im Laden am Karl-Lederer-Platz, denkt an die Mao-Bibel, ohne die es zu Beginn der Siebzigerjahre auch fernab der großstädtischen Studentenproteste nicht ging: "Solche Sachen sind ja total verschwunden." Nach Heinrich Böll und John Steinbeck frage kaum noch jemand, nicht einmal nach dem einstigen König der Unterhaltungsliteratur: "Johannes Mario Simmel, der ging damals wie geschnitten Brot." Vor 46 Jahren hat das Ehepaar Ulbrich, Silvia, 20, und Bernd, 26, beide in ihrem Fach ausgebildet, die erste Buchhandlung in Geretsried eröffnet. Und nun steht eine Zäsur bevor: Zum 1. Januar übergeben sie an die Tübinger Kette Osiander. Nur Tochter Sarah bleibt als Leiterin da. Zeit für eine Rückschau.

An der Adalbert-Stifter-Straße 3 hat alles begonnen. 1973 eröffneten die beiden gelernten Buchhändler dort ihr Geschäft. Bernd Ulbrich führte den Laden im Haus seines Vaters, seine Frau ging zunächst weiter als Angestellte in einer Sollner Buchhandlung arbeiten - eine musste ja sicheres Geld heimbringen. Blauäugig seien sie gewesen, sagt Silvia Ulbrich. Und: "Unsere Eltern fanden es gewagt." 10 000 D-Mark Schulden, hohe Zinsen. Das Geschäft sei anfangs sehr schlecht gelaufen. "Unser Spitzenumsatz" - sie meint es ironisch - "war eine Mark fünfundneunzig. Den ganzen Tag." Ein wenig trugen die Schreibwaren zur Konsolidierung bei, die damals noch zum Sortiment gehörten. Denn auf der anderen Straßenseite hatte ein Jahr zuvor das Gymnasium seinen Betrieb aufgenommen. "Einer von uns hat immer gesagt, jetzt machen wir noch ein bisschen weiter", sagt Silvia Ulbrich.

Gute Lage

Dass aus diesem "Bisschen" schließlich 46 Jahre wurden, lag vor allem am Umzug an den Karl-Lederer-Platz. Die Lage sei gut gewesen in all den Jahren, Geschäfte rundherum: Frankenberger Schmuck, Fisch und Feinkost Reeh, ein Optiker, die Hypo, die Hofpfisterei, der Schlecker, Foto, Wolle und Mode, zählt Silvia Ulbrich auf. "Es ging uns eigentlich gut, als wir gesagt haben, jetzt können wir's uns leisten, Kinder in die Welt zu setzen." Dass Tochter Sarah, heute 40, eines Tages in den Laden mit einsteigen würde - daran sei aber selbst dann noch kein Gedanke gewesen, als sie ebenfalls Buchhändlerin lernte.

Sarah Ulbrich hat erst einmal drei Jahre lang in einer deutschen Buchhandlung auf Mallorca gearbeitet, bei Lehmkuhl in München und als Volontärin im Vertrieb des Piper Verlags, bevor sie 2008 in Geretsried mit einstieg. In der Buchhandlung kümmert sie sich auch um die Aktionen zur Leseförderung, um Lesungen, die Zusammenarbeit mit Kindergärten, Schulen und der Stadtbücherei. Und für die Schaufenstergestaltung bastelt sie selbst schon mal Buchseiten in Form von Herbstlaub oder dekoriert die Kochbücher-Auslage mit eigenen Haushaltsgegenständen. Im Übrigen sieht sie ihre wichtigste Beschäftigung im "Lesen, Lesen, Lesen".

All dies wird Sarah Ulbrich auch weiterhin tun können. Nur nicht mehr im eigenen Laden. Aber Leiterin bleibt sie, wenn das 140 Quadratmeter große Geschäft, das zur Inventur gewöhnlich einen Bestand im Wert von rund 120 000 Euro hat, von Januar an zur Osiander-Familie gehört. Die 1596 gegründete Tübinger Buchhandlung mit ihren mehr als sechzig Filialen, die sich rühmen kann, die zweitälteste Deutschlands zu sein, war für die Ulbrichs der ideale Partner. Denn mit Geschäftsführer Christian Riethmüller wurden sie sich nicht nur über die Übergabe einig. Er sicherte auch zu, dass Sarah Ulbrich den Laden wie bisher und damit "im Sinn der Familie" weiterführen kann. Auch Mitarbeiterin Christiane Griesbeck wird übernommen.

Warum also der Wechsel? Alle drei Ulbrichs sagen, es sei die innerstädtische Entwicklung in Geretsried, die den Ausschlag gegeben habe. Schon die gigantische Baustelle mit all ihren Hindernissen habe einen Einbruch bedeutet - 15 bis 20 Prozent weniger Umsatz -, aber da sei immerhin ein Ende abzusehen. Im November soll der neu gestaltete Platz feierlich eröffnet werden. Doch es sei ja das erklärte Ziel der Stadt, den Platz rundum so zu entwickeln, wie er sich mit den beiden neuen großen Wohn- und Geschäftshäusern nun darstellt, sagen die Ulbrichs. Auch die kleine Ladenzeile auf ihrer Seite des Platzes werde gewiss eines Tages abgerissen und es werde dort neu gebaut. Gewerbemieten, wie sie dann zu erwarten seien, könnten sie sich niemals leisten. "Fakt ist, dass wir nicht die nächsten zwanzig Jahre sicher hier sein können", sagt die Juniorchefin. Deswegen sei die Übergabe "die sichere Variante für die Zukunft".

Ketten und Filialisten könnten einfach anders kalkulieren: "Die kaufen besser ein als wir" - soll heißen, sie bekommen wegen der Menge größere Rabatte -, "und die können andere Mieten zahlen als wir." Im Übrigen sei Geretsried "schon auf dem Schirm der Filialisten gewesen". Einer habe bei ihnen angeklopft. Und es könne durchaus sein, dass sich ein anderer "hier breitmacht".

Rund 6000 Buchhandlungen gibt es nach Auskunft des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Deutschland. Davon seien etwa 4700 klassische Buchhandlungen (inklusive Filialen), die sich unterteilten in 3500 kleine, unabhängige und 1200 kettenzugehörige Geschäfte. Daneben gebe es mehr als 1300 Buchverkaufsstellen, bei denen Bücher nicht das Kernsortiment bildeten, jedoch einen gewissen Raum einnähmen, etwa Tankstellen oder größere Lebensmittel-Einzelhändler. Unter den Filialisten sind laut Börsenverein Thalia, Weltbild und Hugendubel führend; auf regionaler Ebene Osiander und Rupprecht.

"Das große A"

Bis vor zehn Jahren habe alles noch "gut ausgeschaut, dass so ein kleiner Laden überleben kann", sagt Bernd Ulbrich, der sich 2013 aus dem Geschäft zurückgezogen hat und seitdem die Auslieferungen übernimmt. Doch "das große A" wie Amazon schwebe über allen, der Online-Handel ziehe viel ab, in absehbarer Zeit werde sogar das Geschäft mit Schulbüchern wegfallen, da auch dort digitalisiert werde.

Die Sorge um die Standortsicherheit, die Familie Ulbrich umgetrieben hat, betrifft alle. "Der Buchhandel leidet wie der gesamte Einzelhandel unter einer zunehmenden Verödung der Innenstädte", erklärt Thomas Koch, Pressesprecher des Börsenvereins. Es kämen immer weniger Menschen in die Fußgängerzonen und Innenstädte und die Bedingungen für Händler würden immer schwieriger. Was könnte die Politik tun? "Neben angemessenen Mieten brauchen wir von den Städten und Gemeinden wirksame Konzepte für eine attraktive Einkaufslandschaft und einen ausgewogenen Geschäfte-Mix, um lebendige Innenstädte zu erhalten oder Einkaufsorte wieder neu zu beleben", sagt Koch.

Natürlich müssen auch Buchhandlungen selbst sich auf veränderte Marktbedingungen einstellen. Die Ansprüche, die der Börsenverein dazu benennt, erfüllen die Ulbrichs aber längst. Da ist als Erstes das sogenannte "Cross-Channeling", die Verknüpfung der Vorzüge des stationären und des Online-Handels. Bei Ulbrich können Kunden wählen, ob sie im Laden kaufen oder online bestellen und sich die Bücher schicken lassen oder sie selbst abholen. Weitere Kriterien des Fachverbands: "Die Buchhandlung als kultureller und gesellschaftlicher Treffpunkt sowie Anbieter von Leseförderungskonzepten und Ausbau des Marketings über Veranstaltungen und Kooperationen."

In all solche Aktivitäten musste Sarah Ulbrich bisher neben Energie und Fantasie auch viel Zeit investieren - 50 Wochenstunden und mehr, sagt sie. So gesehen wird sie es in Zukunft leichter haben. Als Angestellte bei Osiander hat sie eine tarifliche Arbeitszeit, einen geregelten Urlaub ("Meine Kinder freuen sich") und mehr Mitarbeiter. Mindestens zwei Neue, meint sie, werde der Betrieb erforderlich machen. Auch ein Azubi sei vorstellbar, denn Osiander biete Ausbildungsplätze und sie habe die Qualifikation dafür.

Dem Nachwuchs könnte Sarah Ulbrich dann sagen, was sie über das Leben als Buchhändlerin denkt: "Es ist ein toller Beruf, wahnsinnig vielseitig. Man lernt visuelles Marketing, Social Media, Onlineshop, hat mit Menschen zu tun, denen man Empfehlungen geben kann." Nur reich werde man halt nicht.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2019
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