Süddeutsche Zeitung

Nicht nur zur Osterzeit:Im Hinterstockerschen Hühnerhimmel

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Die Leiterin des Tölzer Stadtmuseums lässt ihrem Federvieh freien Lauf. Das bedeutet 365 Tage Eiersuche

Von Stephanie Schwaderer, Bad Tölz/Valley

Prinzessin Li Si hat den Palmsonntag nicht erlebt. Wurde vom Fuchs geholt. Franz Josef hat den Schock offenbar überwunden. Feist kommt er über die Weide gestapft, ein Brackel aus Fleisch, Federn und wippenden Kinnlappen. Den Großteil seines Kamms hat er bei Revierkämpfen eingebüßt. Tut seiner Männlichkeit aber keinen Abbruch. Im Gegenteil. "Ein französischer Maran-Hahn, derzeit der Älteste", erklärt Elisabeth Hinterstocker, während Franz Josef die Attacke eines flotten Fünfzehen-Jünglings pariert. Unter den Büschen, beim Schuppen und hinten am Bienenhaus wird gegackert und gescharrt, scharmützelt, gehackt und ziemlich unromantisch kopuliert; Hennen kreischen, Federn knistern, Staub wirbelt auf; ein paar Hähne stimmen ein Standkonzert an. Und wo sind die Eier?

"Die haben so ihre Plätze", sagt Hinterstocker und schreitet zielstrebig zur Buchsbaumhecke. Steckt den Kopf hinein. Fehlanzeige. Unter den Johannisbeerbüschen, an denen erste zarte Blättchen sprießen, sind große Sandbadewannen ausgebaggert, aber auch die sind leer. "Da!", sagt sie und bückt sich unter einen Stapel Holzstämme. Und tatsächlich, da liegt ein kleines Wunder: makellos, glatt, matt glänzend - und bronzegrün.

Jedes Tier hat seine Geschichte

Derzeit haben 40 Hennen und zehn Hähne das seltene Glück, auf dem Anwesen hinter dem Bahnhof von Valley uneingeschränkt ihrer Bestimmung nachgehen zu dürfen. Jedes Tier hat seinen Namen und seine Geschichte. "Und alle haben ein ganz unterschiedliches Sentiment", sagt Hinterstocker. Ein Perlhuhn namens Blibbi zum Beispiel liebe es, auf den Bahngleisen entlangzuspazieren, was die Schaffner bisweilen den letzten Nerv koste. Ein anderes besuche jeden Morgen den Nachbarn. Hinterstocker ist sich sicher: Die Henne genieße es, vor Publikum die Straße zu überqueren. "Wanderer halten regelmäßig den Verkehr auf, damit sie sicher auf die andere Seite kommt."

Bald wird es im Hinterstockerschen Hühnerhimmel wieder Neuzugänge geben. Im Tölzer Stadtmuseum liegen seit Ende März 40 Eier in einem Brutkasten bei exakt 38,3 Grad. Jeden Tag werden sie gelüftet und befeuchtet, so wie es auch eine Glucke mit ihrem Gelege macht. Am Karsamstag sollen die Bieberl schlüpfen. Dann dürfen Kinder ihnen einen Namen geben. Die Eier stammen aus Valley, sind schokobraun und rosa, türkis, weiß und gelb und wurden von Maran-Hühnern und Appenzeller Spitzhauben gelegt, von behäbigen Sussex-Damen oder eleganten Seidenhühnern. Und von wilden Kreuzungen, so wie Li Si selig eine war. "Ist immer interessant zu sehen, was sich durchmendelt", sagt Hinterstocker. "F1, F2, da muss man ein bisschen rechnen. Spannend."

Die 43-Jährige mit den blauen Augen und den braunen Locken ist schwer zu fassen. 2012 hat sie die Leitung des Stadtmuseums übernommen - nachdem sie sich gegen 23 Mitbewerber durchgesetzt hatte. Sie hat Kunstgeschichte, Geschichte und Politik studiert, auch einige Semester Theologie, und eine Ausbildung zur Restauratorin abgeschlossen. Als Museumsleiterin hat sie sich seither nicht nur mit gelungenen Ausstellungen profiliert; in einem abgelegenen Speicher, der nur über eine lange Leiter zugänglich ist, entdeckte sie 2016 eine Barock-Sänfte, die als Sensation gehandelt wird und über die sie wissenschaftlich forscht. Zudem bietet sie in der Museumswerkstatt ein einzigartiges Begleitprogramm an, das Kindern etwas fürs Leben mitgibt. Ausgelastet ist sie mit all dem offenbar nicht.

"Wiwiwiwiwi." In dicken grünen Gummistiefeln überquert Hinterstocker die Pferdekoppel und lockt das Federvieh mit Haferflocken. Neben ihr schlappt treuherzig ein Kalb von einem Hund. Topper Harley kommt aus dem Tierheim und wiegt ungefähr so viel wie sein Frauchen. Zum engeren tierischen Familienkreis gehören zudem der Kater Farinello und die Schildkröten Castor und Pollux. Die Stute Cosa Rara ist vor kurzem an Altersschwäche gestorben. Der jüngste im Bunde ist Fighter, ein junger Ochse, den Hinterstocker allen medizinischen Prognosen zum Trotz hochgepäppelt hat. "Wenn er stark genug ist, versuche ich, ihn zu reiten."

"Ich bin mit Tieren groß geworden"

Wie viele Stunden genau hat ihr Tag? Sie lacht. "Heute war es eine kurze Nacht. "Um halb drei ins Bett und um fünf wieder raus. Aber das ist nicht immer so." Ein Bürojob und abends vor dem Fernseher sitzen - das wäre schlimm für sie. "Ich bin mit Tieren groß geworden, der Papa hat kranke Eulen gepflegt, wir hatten immer Hühner und Hunde. Als ich fünf war, habe ich ein Paar Gänse geschenkt bekommen, die wurden 18 und 21 Jahre alt."

Urlaub oder Reisen gehen mit einem solchen Leben schwer zusammen. Das nimmt sie in Kauf. Nach dem Studium habe sie ein Angebot aus England bekommen, erzählt sie. Auf einem Landschloss mit Schafen hätte sie die Stelle eines Kastellans übernehmen können. "Das wäre mein Traumjob gewesen." Sie hat abgelehnt. Und stattdessen die Oma in Valley gepflegt. "Das bereue ich nicht, die Zeit, die ich mit meiner Oma verbracht habe, kommt nie wieder."

Auch ihre Art der Hühnerhaltung bezeichnet sie als "Lebensentscheidung". Sie bedeute einerseits: kein englischer Rasen, dafür Kothäufchen auf der Terrasse und vor dem Küchenfenster, tiefe Sandkuhlen auf dem Parkplatz und rohe Gewalt im Salatbeet. "Wenn man so lebt, ist immer irgendwo Unordnung, Dreck oder eine ausgegrabene Blumenzwiebel. Auf der anderen Seite hatte ich nie das Gefühl, dass wir die Kreatur damit beschneiden. Das ist eine Einstellung zum Miteinander."

Hinterstocker lebt im alten Bahnhof von Valley. Ihre Urgroßeltern waren dort die ersten Bahnhofsvorsteher. Unzählige Arbeitsstunden hat sie in die Renovierung des Hauses gesteckt. Gleich hinter der Tür, die sie aus Holz und Butzenglas gebaut hat, steht ein beeindruckender Jesus. Seine vorerst letzte Reise hat er aus einem Münchner Nachtclub angetreten. Dort war ihm die linke Hand abgefallen. Weil Hinterstocker zum Restaurieren gerade die Zeit fehlt, hat sie ihm eine Gartenschürze umgehängt. In der steckt neben Astscheren und einer Grillzange auch die abgebrochene Hand. "Jesus, der gute Gärtner", sagt sie im Vorbeigehen.

Egal, ob es um lädierte Heilige oder ausrangierte Möbel geht, um alte Bräuche oder aussterbende Traditionen: Hinterstockers Mission scheint das Bewahren zu sein. Auch bei gebrochenen Hühnerbeinen. Eigentlich habe sie Tierärztin werden wollen, erzählt sie. Aber ihr Vater habe gesagt, sie sei zu zierlich und zu mitfühlend für diesen Beruf. Stimmt das? "Es ist um jedes Lebewesen schade, wenn es sterben muss", sagt sie. "Wenn ich aber merke, dass sich Tiere quälen und keine Kraft mehr haben, dann kann ich sie auch erlösen." Aber das Zwergerl, da ist sie sich sicher, "das Zwergerl wollte nicht sterben".

Das Zwergerl sitzt geschützt in einem Separee aus Hasendraht. Die kleine weiße Henne hat sich beim Rangeln ein Bein gebrochen. Jetzt trägt sie einen Fixateur extern. "Wir haben sie vergolden lassen", sagt Hinterstocker im Hinblick auf die Tierarztrechnung. Aber ihre Mutter habe das Zwergerl nunmal besonders ins Herz geschlossen. Und außerdem dürfe man nicht nur aufs Geld schauen. Mit Tieren teile man sich die Jahre. "Das schmeißt man nicht einfach weg."

Auch fürs eigene Altwerden könne man einiges von ihnen lernen: "Die machen das mit Würde." Franz Josef zum Beispiel werde immer ruhiger und zahmer. Zum Sterben legten sich Hühner, sofern sie nicht durch einen Herzschlag oder den Habicht überrascht würden, oft unter einen Johannisbeerstrauch oder einen Obstbaum. "Dann stecken sie den Kopf zum ewigen Schlaf unter die Flügel", sagt sie. "Manchmal fallen sie aber auch einfach im Schlaf von der Stange." Und wenn der Franz Josef mal stirbt? "Dann werden wir uns überlegen, wo er gerne gescharrt hat oder gerne saß, und dort werden wir ihn dann beerdigen, vielleicht unter den Haselnüssen."

Im Brutkasten im Stadtmuseum liegt ein olivgrünes Ei. Es ist warm und randvoll mit Leben. Am Karsmstag wird aus ihm womöglich ein Küken mit schlitzförmigen Augen schlüpfen. Es ist ein Ei von Prinzessin Li Si.

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Quelle:
SZ vom 20.04.2019
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