Süddeutsche Zeitung

Münsing:In Kurrentschrift durch die Feuerwehrhistorie

Die Einsatzkräfte in Sankt Heinrich haben 125 Jahre lang das selbe Kassenbuch verwendet. Heuer wird nun die letzte Seite vollgeschrieben. Die alten Einträge vermitteln einen interessante Eindruck, wie es bei den Löschtrupps früher zuging

Von Benjamin Engel

Das nur außen leicht abgestoßene Kassenbuch war für den Vorstand der Feuerwehr von Sankt Heinrich ein Alltagsgegenstand: Erst im Vorjahr notierte der Kassier im 125 Jahre alten Band noch einen Jahresbericht. Jetzt soll eine Gesamtbilanz über alle Ausgaben und Einnahmen im Kassenbuch aufgeführt werden. Dann ist es endgültig vollgeschrieben. Hinter dem Kassenbuch stehen aber mehr als Zahlen. Der Feuerwehrverein kaufte es zur Gründung im Jahr 1894 zusammen mit einem Protokoll- und einem Inventarbuch.

Als Kommandant Bernhard Block und der Vorsitzende Nikolaus Huber darin intensiver zu lesen begannen, wurde ihnen erst zu richtig bewusst, wie wertvoll die Aufzeichnungen sind. "Alle drei Bücher ergeben zusammen eine interessante Geschichte", sagt Block. "Im Protokollbuch stehen nicht nur Stichpunkte, sondern wirkliche Kurzgeschichten."

Spannend fand Block, wie vor Jahrzehnten die Einsatzkräfte alarmiert wurden. Damals existierte keine zentrale Einsatzleitstelle. Brannte es in Sankt Heinrich, wurde im Gasthaus Fischerrosl angerufen, wo neben dem Postgebäude eines der ersten beiden Festnetztelefone des Dorfes stand. Der nebenan wohnende Mesner läutete dann die Kirchenglocken Sturm, um die Einsatzkräfte zu alarmieren. Laut den Notizen hatte die Feuerwehr früher auch ein Signalhorn, von dessen Reparatur zu lesen ist. Erst 1961 wurde auf das Dach des Gasthauses eine alte Luftschutzsirene montiert.

Die örtliche Feuerwehr war und ist ein kleiner Verein mit heute etwas mehr als 30 aktiven Einsatzkräften. Die Einnahmen reichten geradeso aus, um sich zu finanzieren, sagt Block. Als 23 Einwohner im Jahr 1894 die erste freiwillige Löschorganisation im Ort gründeten, sei es ziemlich teuer gewesen, die drei Bücher anzuschaffen. Wie Bernhard Block berichtet, sei das laut Kassier Marino Nigojevic so, als ob sich heute ein Verein einen teuren Laptop leiste.

Aus dem bis 1949 verwendeten Protokollbuch, dem bis 1979 benutzten und erst im Vorjahr nach vier Jahrzehnten wieder aufgetauchten Inventarbuch und dem Kassenbuch konnte der Vorstand die Feuerwehrhistorie des Dorfes rekonstruieren. Woher etwa die historische Kutschenleiter zum Ausziehen stammte, die in einem landwirtschaftlichen Stadl lagerte, konnte sich bisher niemand erklären. Durch die Lektüre kam heraus, dass die Feuerwehr den Ausrüstungsgegenstand 1903 gekauft hatte. Als der Vorstand erst kürzlich vorgeschlagen habe, eine Weihnachtsfeier zu organisieren, habe jeder gesagt, dass es so etwas noch nie gegeben habe, berichtet Block. In den Büchern stand aber, dass der Verein beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts jahrzehntelang eine Christbaumfeier organisiert hatte. Schon für das Jahr 1896 seien dafür Ausgaben von mehr als 140 Mark angegeben. Ein sehr hoher Betrag, wie Block sagt.

Klar und deutlich ist bis heute die Einprägung "Cassa Buch" auf dem Einband des Kassenbuchs sichtbar. Dafür, dass es monatlich verwendet wurde, sei es noch in einem "Top-Zustand", erzählt Block. Die Papierseiten seien kein bisschen bröselig, der Einband nur etwas abgestoßen. Schwer machten es dem Kommandanten die in Kurrentschrift abgefassten Notizen. Um die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gebräuchliche Schreibschrift ganz zu entziffern, griff der Vorstand auf Schrifterfassungsprogramme zurück oder bat ältere Dorfbewohner um Hilfe.

So stieß Block auch auf Unbekanntes aus der eigenen Familiengeschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts war sein Ururgroßvater Lazarus Schwaiger etwa ebenfalls Feuerwehrkommandant. "Das hat niemand in der Familie vorher gewusst", sagt er. Längst Vergessenes über seine Vorfahren zu erfahren, sei höchst interessant.

Seltsam bekannt kam ihm dagegen so manche vergangene Diskussion in der Historie der Feuerwehr vor. So seien erst kürzlich die Mitgliedsbeiträge erhöht worden, schildert Block. Einige hätten daraufhin gedroht auszutreten. Genau auf die gleichen Debatten sei er während der Lektüre der alten Bücher wieder gestoßen. Auch über den Neubau des Feuerwehrhauses sei jahrzehntelang diskutiert worden, wie die Aufzeichnungen deutlich machen. "Man meint immer, es tut sich so viel in 125 Jahren", sagt Block. "Aber in Wirklichkeit ist es immer das Selbe."Ob neues Gerät angeschafft werden solle oder auch das alte noch ausreichend sei, ob die Einnahmen reichten und vieles mehr.

Die drei Bücher sollen im Eigentum der Feuerwehr bleiben. Schriftführer Leonhard Gistl verwaltet das Protokollbuch. Auch wenn der Kassier die Rechnungsbilanzen inzwischen im Computer erstellt, führt er parallel ein neues Kassenbuch weiter. Denn digitale Medien könnten leicht beschädigt werden und so Wissen verloren gehen. So, wie es dem heutigen Vorstand Spaß gemacht habe, in den bis zu 125 Jahre alten Aufzeichnungen zu schmökern, hofft Block, hätten vielleicht auch spätere Generationen Freude an den jetzigen Niederschriften.

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SZ vom 15.07.2020
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