Serafine Lindemann versteht Kunst und Kultur als genuine Elemente der Demokratie. Gerade ist die in der Gemeinde Münsing beheimatete Kuratorin damit beschäftigt, ein Festival in Frankreich zu organisieren. Auf französischer Seite hätte sie keine bessere Partnerin als Elke Jeanrond-Premauer finden können. Die ehemalige BR-Journalistin und ihr Mann sind Inhaber des Château d'Orion, das etwa 200 Kilometer südlich von Bordeaux in der Region Neu-Aquitanien liegt. Dort und im nahegelegenen Ort Sauveterre soll im September das Festival "Terre et Temps. Erde und Zeit" steigen.
Der Zeitpunkt ist gut gewählt: 2024 feiern München und Bordeaux 60 Jahre Städtepartnerschaft. Und auch das 60. Jubiläum des Élysée-Vertrags, das voriges Jahr begangen wurde, ist noch frisch in Erinnerung. "Das Festival "Terre et Temps. Erde und Zeit" wird den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag mit seinem reichen verbindenden Konzept vertiefen", sagt Serafine Lindemann. "Wir sind angesichts der aktuellen Weltgeschehnisse und Krisenherde überzeugt von der deutsch-französischen Freundschaft als eine stabilisierende Verbindung für ein starkes Europa. Nur ein gesellschaftlicher Zusammenhalt garantiert unser demokratisches Wertesystem."
Im März vergangenen Jahres war Serafine Lindemann zum ersten Mal im Château d'Orion. Um einen großen Tisch herum saßen Kulturinteressierte aus dem kleinen Ort Sauveterre und entwarfen eine Vision. "Miteinander haben wir dieses Festival kreiert", sagt sie. Es gehe um Begegnung und um die Gestaltung gemeinsamer Zeit. Die Gegend ist ziemlich abgelegen und die Landschaft ursprünglich. Geplant ist ein dreitägiges Fest, das einen großen Teil der Bevölkerung einbezieht, Traditionen und Handwerk ehrt und Menschen verschiedener Nationen zusammenbringt. "Dabei legen wir den Fokus auf unsere knapper werdenden Ressourcen und auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse", betont Lindemann.
Bei der Konzeption des Festivals liegt der Fokus auf der Zusammenarbeit von Künstlerinnen und Künstlern aus europäischen Ländern, die wiederum mit Einheimischen gemeinsam etwas entwickeln. Kunst und Handwerk, Kultur und Natur, Wissenschaft und Wirtschaft sollen sich verbinden und ein Licht auf das reiche Kulturerbe werfen, auf Verborgenes, Traditionen und Rituale, auf historische Abläufe und auf die Gegenwart. Mit allen Sinnen soll die Gegend erspürt werden, die unter anderem von Winzern, Landwirten, Bioseifen- oder Keramikherstellern geprägt wird.
So ein Team bilden etwa das Künstlerduo Wolfgang Aichner und Thomas Huber (GÆG) mit Engagierten aus Sauveterre und Orion: Sie werden den hohen, weißen Wasserturm von Orion mit einer Videoprojektion in einen sprudelnden Wasserkocher verwandeln. Aichner und Huber sind renommierte Künstler, die auf der ganzen Welt mit ihren Projekten unterwegs sind. In Orion ist ihre Arbeit eine Würdigung des Lebensspenders Wasser.
Der Bedeutung der Waschplätze, der Lavoires, als wichtiges Kulturerbe widmen sich die Multimediakünstlerin Manuela Hartel und der französische Akkordeonist Jesus Aured. Als Hommage an die Waschfrauen verwandeln sie durch Licht, Videoprojektion, Musik und Stimme den vergessenen Ort von Sauveterre zu einer bewegten Raum- und Klanginstallation.
Andere Künstler erforschen die Luft, Gerüche, Klänge und Geräusche oder verborgene Ecken der Region. Eindrücke, die der schnell Durchreisende wohl nicht wahrnehmen kann, denn er ist schon wieder weg, bevor er den Ort wirklich durchdrungen hat. Wie viel Zeit nehmen wir uns für unsere Sinne; für den Umgang miteinander? Welchem Rhythmus unterwerfen wir uns? Der Künstler Eduardo Palomares nimmt die Gegend für das Festival bei seinen intensiven Wanderungen körperlich und geistig wahr. Er sammelt in der Umgebung von Sauveterre, Orion und am Atlantik Kräuter, Meerwasser, Salz, Wein und Erde ein. Die Essenzen daraus konzentriert er in Flakons und erzeugt mit ihnen Duftporträts dieser charakteristischen Landschaft.
Was alle, die am Festival teilnehmen werden, vereint, ist das Gemeinschaftsprojekt "À table": Der Bildhauer Jörg Koziol und die Keramikkünstlerin Johanna Meyer schaffen mit Handwerkern und Freunden für das Zentrum des Festivals eine große Tischinstallation in Form einer Sonnenuhr aus Resthölzern der Region. Johanna Meyer entwirft für diesen Anlass das Keramikgeschirr aus heimischen Erden und Materialien, das in Zusammenarbeit mit französischen Keramikwerkstätten produziert wird. "Hier soll getanzt und gefeiert werden", freut sich Serafine Lindemann.
"Terre et Temps. Erde und Zeit" ist als kreative Stärkung der Wertschätzung unserer Erde und der Dimension Zeit gedacht. "Diese Herausforderung betrifft schließlich jeden von uns täglich und in allen Lebensbereichen. Kompetenz, Hinwendung und das Engagement der Zivilgesellschaft über die Grenzen hinweg sind entscheidend, wenn wir unsere Lebensgrundlage sichern wollen", sagt Lindemann.
In Bordeaux wird die Zeit angehalten
Um die Ressource Zeit dreht sich auch ein zweites Kunstprojekt in Bordeaux, das Lindemann kuratiert. "Unser Leben ist von einem engen Zeitsystem bestimmt", sagt sie. "Wir rennen der Zeit hinterher und hören uns oft sagen: Ich habe keine Zeit." Dies gehe auf Kosten unserer natürlichen Ressourcen. Mittlerweile wachse die Erkenntnis, dass Zivilisationsprobleme oftmals auf menschengemachte Zeitwelten zurückzuführen sind.
Aber wie ist Zeit überhaupt zu bemessen? In welchem Verhältnis stehen Zeit und Qualität zueinander? Was hat die Erfindung des Sekundenzeigers im Jahre 1585 ausgelöst? All diese Fragen haben sich das Künstlerduo Wolfgang Aichner und Thomas Huber (GÆG) gestellt und das Konzept einer sich durch die Menschen verlangsamenden Uhr als interaktives Kunstwerk entwickelt. "Éternellement" (Ewig) heißt die Installation, die sie für einen historischen Bogen im Zentrum von Bordeaux planen.
Vis-à-vis der Uhr stellen die beiden Künstler vier Sitzwürfel auf. Nehmen zwei Personen Platz, viertelt sich die Laufzeit des herausstechenden rosafarbenen Sekundenzeigers. Bei drei Sitzenden kriecht der Zeiger nur noch mit einem Zehntel des normalen Zeitflusses. Besetzen vier Personen die Sitzwürfel, bleiben die Uhr und somit die Zeit stehen. Auf jeden Fall hilft die Uhr, persönliche Zeit zu gewinnen, sie anzuhalten und über sie nachzudenken. "In Bordeaux setzen wir ein Zeit-Zeichen", sagt Lindemann. "Es ist eine Würdigung an die Zeit als Bedingung zur Veränderung unserer Lebenswirklichkeit."