80 Jahre KriegsendeSchrecken und Neubeginn

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Die Hitlerjugend war die Jugendorganisation der NSDAP. Sie wurde ab 1933 zum staatlichen und einzigen Jugendverband ausgebaut, der 98 Prozent aller deutschen Jugendlichen erfasste. Nach dem Krieg wurde die Organisation verboten. Im Bild die Münsinger Hitlerjugend, an ihrer Seite Pfarrer Anton Heldmann (rechts hinten).
Die Hitlerjugend war die Jugendorganisation der NSDAP. Sie wurde ab 1933 zum staatlichen und einzigen Jugendverband ausgebaut, der 98 Prozent aller deutschen Jugendlichen erfasste. Nach dem Krieg wurde die Organisation verboten. Im Bild die Münsinger Hitlerjugend, an ihrer Seite Pfarrer Anton Heldmann (rechts hinten). (Foto: Ambacher Verlag/oh)

Eine Ausstellung im Münsinger Bürgerhaus beleuchtet Terror und Alltag der Nazi-Diktatur in den Dörfern. Der Schauspieler Christian Tramitz liest Einmarschberichte und lokale Künstler stellen aus.

Von Benjamin Engel, Münsing

Epileptische Anfälle hat Ferdinand Hinterholzer aus Attenkam, seit er mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Ambach gestürzt ist. In der Nazi-Diktatur ist seine Existenz somit „lebensunwert“. Infolge des sogenannten Euthanasie-Programms wird der 40-Jährige im Krankenhaus Haar ermordet. Offiziell heißt es in einer Mitteilung, dass Ferdinand Hinterholzer am 22. März 1945 an einer Lungenentzündung gestorben ist. Bis der Zweite Weltkrieg und damit das Terrorregime der Nazis beendet ist, wird es von diesem Datum an nur noch knapp sieben Wochen dauern.

Wegen „wehrzersetzender“ Äußerungen wird Anton Sailer verhaftet

Zwei Brüder kommen als Soldaten ums Leben. Genauso wie Nikolaus Zistl, dessen Militär- und Kriegsalltag in vielen Fotos dokumentiert ist. Die Aufnahmen sind teils grausig, kaum zu ertragen, zeigen erhängte Männer, übereinandergeworfene Leichname in einem noch offenen Massengrab und schließlich ein Holzkreuz mit Namen und Lebensdaten des Obergefreiten Nikolaus Zistl. Mit 24 Jahren ist der Bauernsohn zum Bruckmeir am 25. November 1943 bei Nikopol in der Ukraine gestorben. Anton Sailer wird zum Tod verurteilt und im März 1945 im Wehrmachtsgefängnis in Torgau hingerichtet, nachdem er zweieinhalb Monate zuvor alkoholisiert wegen „wehrzersetzender“ Äußerungen in der Schäftlarner Klosterschänke verhaftet worden war.

Musterung 1940/1941; (hintere Reihe v. l.) Josef Seitner, Johann Stoßberger, Matthias Schwarz, Simon Ruhdorfer (gefallen 25. Januar 1943); in der vorderen Reihe v. l. Ferdinand Bruckmeir, ein Knecht aus Neufahrn, und Peter Reiser. Der abgebildete Matthias Schwarz starb an einer Blinddarmentzündung, kurz bevor er einrücken musste. Alle jungen Männer waren Jahrgang 1923.
Musterung 1940/1941; (hintere Reihe v. l.) Josef Seitner, Johann Stoßberger, Matthias Schwarz, Simon Ruhdorfer (gefallen 25. Januar 1943); in der vorderen Reihe v. l. Ferdinand Bruckmeir, ein Knecht aus Neufahrn, und Peter Reiser. Der abgebildete Matthias Schwarz starb an einer Blinddarmentzündung, kurz bevor er einrücken musste. Alle jungen Männer waren Jahrgang 1923. (Foto: Ambacher Verlag/oh)

Das sind nur drei Schlaglichter aus einer Ausstellung, die in Münsing anlässlich des Kriegsendes vor 80 Jahren zu sehen ist. „Wir wollen zeigen, was Krieg in all seinen Facetten bedeutet, wohin Denunziantentum führen kann“, sagt Manfred Hummel. Der Autor und Journalist zählt zum Kern-Team um den aus Münsing stammenden Historiker Johannes Bernwieser, Fritz Wagner und Bettina Hecke vom Ambacher Verlag sowie Bildhauer und Gemeinderat Ernst Grünwald. Sie haben die Ausstellung konzipiert sowie mehrere Chronik-Bände über Münsing herausgegeben.

Bei der Ausstellungseröffnung am 9. Mai werden Münsings Bürgermeister Michael Grasl und Johannes Bernwieser sprechen, der die Abteilung für Forschung und Forschungsdokumentation an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften leitet. Zudem präsentieren Grundschüler aus Münsing Friedenstauben, die sie am Vortag mit Schmied Tom Carstens hergestellt haben. Anschließend liest der Schauspieler Christian Tramitz, der in Münsing lebt, aus den Kriegs- und Einmarschberichten im Archiv des Erzbistums München und Freising. Auszüge aus Band II und III der Münsinger Chronik tragen Bernwieser, Bettina Hecke und Veronika Kreuzhage vor.

Mutterkreuz: Die Verleihung des Ehrenkreuzes war dreistufig angelegt. So konnte die Mutter die dritte Stufe erhalten, wenn sie vier oder fünf Kinder hatte, die zweite Stufe, wenn sie sechs oder sieben Kinder hatte, und die erste Stufe, wenn sie acht oder mehr Kinder hatte. Die erste Verleihung fand am 21. Mai 1939 statt. Wegen der unerwartet hohen Anzahl von 5,5 Millionen Ehrenkreuzen wurden bei dieser ersten Verleihung nur Mütter ausgezeichnet, die älter als 60 Jahre und damit wie auch einige der abgebildeten Münsingerinnen sicher bereits Großmütter waren.
Mutterkreuz: Die Verleihung des Ehrenkreuzes war dreistufig angelegt. So konnte die Mutter die dritte Stufe erhalten, wenn sie vier oder fünf Kinder hatte, die zweite Stufe, wenn sie sechs oder sieben Kinder hatte, und die erste Stufe, wenn sie acht oder mehr Kinder hatte. Die erste Verleihung fand am 21. Mai 1939 statt. Wegen der unerwartet hohen Anzahl von 5,5 Millionen Ehrenkreuzen wurden bei dieser ersten Verleihung nur Mütter ausgezeichnet, die älter als 60 Jahre und damit wie auch einige der abgebildeten Münsingerinnen sicher bereits Großmütter waren. (Foto: Ambacher Verlag/oh)

Kreuzhage, die spätere Pressechefin von Bertelsmann, ist bei Kriegsende acht Jahre alt und wohnt in einer Villa am Ostufer des Starnberger Sees. Ihr musikalisch geprägtes Umfeld und ihren Werdegang hat sie für den dritten Band der Münsinger Chronik geschildert. An Dokumente und Erinnerungen von Zeitzeugen des Weltkriegendes zu kommen, sei allerdings schwierig gewesen, sagt Hummel. Viele NS-Akten seien damals vernichtet worden. Teils hätten Familienmitglieder die Hinterlassenschaft ihrer gestorbenen Angehörigen weggeschmissen. Zur Ausstellung beigetragen hätten insbesondere die Veteranenvereine aus Degerndorf, Holzhausen und Münsing, also aus den drei früher politisch selbständigen Dörfern der heutigen Großgemeinde.

Von 81 Gefallenen oder Vermissten in Münsing sind 44 keine 30 Jahre alt

15 Informationstafeln beleuchten in der Münsinger Ausstellung, wie das Nazi-Regime in den Dörfern die Macht übernimmt, die Institutionen gleichschaltet, sich dessen rassistisch-extremistische Ideologie verbreitet und meist junge bis sehr junge Männer „für Führer, Volk und Vaterland“, wie es in der Propaganda heißt, als Soldaten in den Tod gehen. Von den 81 Gefallenen oder Vermissten sind 44 nicht einmal 30 Jahre alt, zwölf davon unter 20 Jahre. Manche kommen erst nach jahrelanger Kriegsgefangenschaft zurück.

An ihren Lehrer in SA-Uniform erinnert sich Veronika Kreuzhage. Der inzwischen gestorbene Filmemacher Percy Adlon wird damit zitiert, wie er und seine Klasse am ersten Schultag mit dem Hitlergruß anzutreten hatten. In der Ausstellung geht es unter anderem auch um Zwangsarbeiter auf Bauernhöfen in der Gemeinde oder Frauen, die als Feuerwehr in die Bresche springen, weil die verbliebenen Männer in der Landeshauptstadt München bei Einsätzen aushelfen müssen. Zu erfahren ist darüber hinaus über das Schicksal der Geflüchteten und Vertriebenen, die infolge des Weltkriegs nach Münsing kommen und sich am Ostufer des Starnberger Sees eine neue Existenz aufbauen müssen.

Die örtlichen Banken und der Kulturfonds der Gemeinde unterstützen die Ausstellung laut Bürgermeister Grasl finanziell. Wer zur Eröffnung und der Lesung von Christian Tramitz kommt, muss keinen Eintritt zahlen. Um Spenden bittet die Kommune. Manfred Hummel vom Chronik-Team hofft, dass möglichst viele Leute, besonders auch „junge Leute“ der Einladung folgen werden.

80 Jahre Kriegsende und Neubeginn, Münsing, Ausstellung der heimischen Künstler – LandArt Münsing #2 – in der Lothhoftenne von 8. bis 11. Mai, Vernissage am 8. Mai um 18 Uhr; Ausstellung  „Kriegsende und Neubeginn“ von 9. bis 31. Mai im Bürgerhaus, Eröffnung und Lesung mit Christian Tramitz ab 18 Uhr am 9. Mai; Erinnerungsspaziergang durch Münsing mit Ursula Scriba am 11. Mai, Treffpunkt um 14 Uhr an der Grundschule

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Von Benjamin Engel

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