Wer in eine Montessori-Schule geht, muss keine Noten fürchten - es gibt dort gar keine. Aber auch wenn die Kinder und Jugendlichen ihrer Entwicklung gemäß frei lernen können, geht es so ganz ohne Prüfung auch für sie nicht ab. In Dietramszell erfahren Achtklässler die einzige Bewertung, wenn sie ihre "Große Arbeit" vor Eltern und Jury vorstellen. Das war jetzt für 23 Schülerinnen und Schüler so weit. Wochenlang hatte sie sich darauf selbständig vorbereitet.
Im Innenhof des Salesianerinnen-Klosters in Dietramszell schneit es Zierkirschenblüten, der Pflasterweg zum Schuleingang ist schon ganz bedeckt davon. In den Fluren hängen Kinderstimmen in der Luft und Basteleien an der Wand, was so gar nicht zum altehrwürdigen Klostergemäuer zu passen scheint. Um ihre "Große Arbeit" gekonnt in Szene zu setzen, haben die Achtklässler der Montessori-Schule eigene Stände aufgebaut. "Mein erstes Jahr als Tante" steht am ersten Stand, "Palmöl" an nächsten und "Pferdetherapie" am dritten. Die Themenwahl könnte vielfältiger nicht sein. Zwischen den Ständen spazieren Eltern hin und her, führen kleinere Geschwister an den Händen und begutachten Werkstücke der Schüler, die auf den Standtischen liegen. Es herrscht fröhliche Basar-Stimmung.
Inmitten aufgeregter Schüler und stolzer Eltern steht Schulleiter Gero Jaegers. In der Hand hält er ein Klemmbrett mit Bewertungsbögen. Seit zweieinhalb Stunden, erklärt er, laufe er nun schon von Stand zu Stand und lasse sich von den Schülern ihre Arbeit erklären. Das sei seine Aufgabe als Juror. Im Moment steht er bei Nele Link und ihrem Fahrrad. Den Schwerlastgepäckträger an dem Rad hat die Achtklässlerin in Uganda mit einem Team aus ihrer Schule selbst zusammengebaut.
Drei Wochen hatte sie in dem Land verbracht, eine Woche hat der Bau des Schwerlastgepäckträgers gedauert. Ihren Text dazu hat Nele gut einstudiert, sie spricht ihn ohne Stocken herunter. Sie habe es spaßig gefunden, das Winkeleisen zu bearbeiten, erzählt sie. Aber auch als anstrengend, dass die Schulkinder, die sie in Uganda besuchten, sich über Papier und Radiergummi gefreut haben, und dass Trinkwasser dort keine Selbstverständlichkeit ist.
Seit dem Tod von Rektor Michael Rettinger im Dezember vorigen Jahres hat Gero Jaegers gemeinsam mit Gesine Prox das Amt der Schulleitung inne. Verändert hat sich an der Schule mit der neuen Chefetage kaum etwas, sagt Maria Döbler, Lehrerin der Achtklässler. Sie hat die Jugendlichen bei ihrer Arbeit betreut. Vergessen haben die Schülerinnen und Schüler ihren ehemaligen Rektor allerdings nicht. Im Gegenteil: Shirley Giegold hat ihre Arbeit dem Klavier verschrieben. Bei der dazugehörigen Präsentation wird sie drei Klavierstücke spielen, die Michael Rettinger gewidmet sind.
Drei Teile werden in der Bewertung beachtet: die schriftliche Arbeit, die Präsentation und die praktische Arbeit, ausgestellt an den Ständen. Wird die Arbeit von der Jury als bestanden beurteilt, dann gilt es für die Prüflinge, im folgenden Jahr die Mittlere Reife zu bestehen. Die meisten Kinder an der Schule, so Döbler, entscheiden sich für diesen Weg. Nur wenige von ihnen gehen in Lehre.
Es wird allmählich 17 Uhr. Die Aula in der Montessorischule füllt sich langsam. Auf dem Programm stehen nun die Präsentationen der "Großen Arbeit". Nele Link steht in der ersten Reihe und schaut keck ins Publikum. Zwischen Ohr und Mund hat sie ein Mikro geklemmt. Im Saal ist die Luft erfüllt von gespannter Erwartung. Dann geht Gesine Prox auf die Bühne. Mit der "Großen Arbeit" stellten die Jugendlichen ihre Selbständigkeit unter Beweis, sagt sie. Da gehöre auch Lampenfieber dazu. Dann macht sie die Bühne frei für Nele. Und Nele spricht sicher und flüssig den Text, den sie so gut einstudiert hat.