Süddeutsche Zeitung

Mitten in Wolfratshausen:Verkannte Genies

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Bei Konzerten steht der Notenumblätterer ebenso im Rampenlicht wie der Virtuose, aber bejubelt wird er nie. Es ist an der Zeit, das zu ändern

Von Wolfgang Schäl

Nie und nimmer würden wir uns dazu hinreißen lassen, ein klassisches Konzert zu rezensieren. Da gibt es nun wirklich berufenere Autoren als unsereinen, Kollegen, die mitunter selber eine Geige daheim haben oder gar einen Flügel, und aus eigener Erfahrung nur zu gut wissen, welcher Art die Untiefen im täglichen Konzertbetrieb sind. Zu Hause, wo keiner zuhört, ja, da klappt freilich alles wie am Schnürchen, da fliegen die Akkorde nur so dahin, da gelingt alles, aber auf der Bühne, in all der Aufregung, wie leicht vergisst der Ausführende da mal die Noten, oder er verheddert sich zwischen den Blättern, sofern er welche dabei hat.

Aber zum Glück hat der Pianist meistens einen Beistand, im wirklichen Wortsinn, einen, der bei ihm steht und die Noten umblättert. Der Notenumblätterer steht ebenso im Rampenlicht wie der Virtuose, aber bejubelt wird er nie. Ja, er wird nicht einmal im Programm erwähnt. Beispielsweise beim jüngsten Konzert des Fauré-Quartetts in der Loisachhalle, das doch eigentlich ein Quintett gewesen wäre, wenn man den unentbehrlichen Helfer gerechterweise mit dazugezählt hätte.

Aber während die vier Kammermusiker am Ende strahlend und übrigens zu Recht, soviel erlauben wir uns doch zu sagen, die anhaltenden Ovationen genießen und zwei Zugaben spielen durften, ging der Umblätterer bescheiden und still von der Bühne und applaudierte von unten sogar noch selber mit. Ein Namenloser, der womöglich ein verkanntes Genie ist, denn nachweislich kann er doch ebenso schnell Noten lesen wie der gefeierte Pianist. Und von der Notenkenntnis bis zur Konzertreife ist es ja nur ein kleiner Schritt. Wie traurig! Diesem bescheidenen Helfer und all seinen namenlosen Kollegen wollen wir deshalb an dieser Stelle eine Girlande flechten und regen ein Konzert nur aus Notenumblätterern an. Ganz ohne Musiker. Wie gern würden wir darüber berichten.

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Quelle:
SZ vom 15.03.2017
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