Mitten in Wolfratshausen:Verhängnisvoller Flugversuch

Große Wohnzimmerfenster sind etwas Schönes - bis sie einem Specht das Leben kosten

Kolumne von Wolfgang Schäl

Das Leben kann so kurz sein. Besonders, wenn man ein hübscher kleiner Buntspecht ist und sich bei den ersten Flugversuchen ungeschickt anstellt. Und noch nicht weiß, was eine Glasscheibe ist. Ein völlig unvermuteter dumpfer, heftiger Schlag ans Wohnzimmerfenster, und schon ist es an diesem freundlichen, warmen Sommernachmittag um das Vögelchen geschehen. Die spontane Hoffnung, das warme, weiche Federbündel mit seinen zarten Krallen könnte womöglich nur vorübergehend benommen sein, kurz sein Gefieder ausschütteln und dann nach Art des Spechts bald wieder am nächsten Baum hämmern, hat sich nicht erfüllt. Ein paar heftig pulsierende Atemzüge noch, wenige schwache Flügelschläge, dann das Ende. Das Köpfchen hängt haltlos nach unten, das Genick ist gebrochen, und ja, man muss es so sentimental formulieren: auch die Augen. Während man den kleinen Havaristen in den Händen hält, schleicht sich spontan Nachdenklichkeit und ein diffuses Gefühl von Schuld ein. Man hätte in diesem verhängnisvollen Augenblick ja womöglich das Fenster offen halten oder es bekleben können mit einem warnenden Vogelbild. Einem Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Vorsicht, ihr kleinen Spechte, es gibt gefährliche Hindernisse in unserer Menschenwelt, die man nicht sieht! Aber man kann doch nicht alles Böse, Verhängnisvolle im Voraus ahnen. So viele Jahre ist doch auch nichts passiert, soll man denn da tage- und wochenlang bei geöffneten Fenstern leben. Leider ist es so: Die Welt ist nicht für einfältige, kleine Spechte gemacht. Es ist eine banale Erkenntnis, auf die man an diesem freundlichen, hellen Sommertag lieber verzichtet hätte: Manche haben Glück, werden groß, genießen ihr Dasein. Manche nicht.

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