Mitten in Wolfratshausen:Ohne Durchblick

Einmal kurz unachtsam, und schon ist's passiert...

Von Wolfgang Schäl

Vorsicht, Glas, wie leicht bricht das! Ach, hätte man es doch schon vorher gewusst. Dann hätte man im Badezimmer nicht so leichtfertig mit der Brille hantiert. Dann wäre sie uns nicht entglitten, nicht auf dem harten Fliesenboden aufgeschlagen und zerborsten, dann müssten wir an dieser exponierten Stelle jetzt nicht sehbehindert über diesen verdrießlichen Vorgang berichten. Jetzt also: Neues vom Maulwurf! Bei dem zu beklagenden Malheur kommen uns wenigstens zwei glückliche Fügungen zugute: Zum einen hat man im Lauf eines langen Journalistenlebens gelernt, blind mit zehn Fingern zu schreiben. Zum anderen ist eine der Scherben ziemlich genau halb so groß wie alle restlichen zusammengerechnet und ließ sich in die Fassung wieder einsetzen, sodass wir rechtsseitig noch über eine Restsehfläche von etwa 40 Prozent im Schreib- und Lesebereich verfügen. Diese ist durch eine vertikale, rechtsseitig zackige Bruchkante begrenzt, die uns zu jedem Augenblick daran erinnert, dass, siehe oben, Glas, wie alles von Menschen Geschaffene, überaus fragil ist und man verdammt nochmal halt aufpassen muss. Dank einer kurzfristig antrainierten, schräg nach rechts unten gerichteten Kopfhaltung, verbunden mit einem extrem starken Schielen aus dem linken Augenwinkel heraus gelingt es nun, aufopferungsvoll über dieses Missgeschick zu berichten, das auch insofern einschneidend war, als wir obendrein barfuß in eine der Scherben getreten sind. Wenn schon, denn schon.

Der Vorfall hat sich am Sonntag ereignet, als wir uns gerade angeschickt hatten, zur Europawahl zu gehen, und er hätte um ein Haar noch politische Konsequenzen nach sich gezogen. Denn die Partei, die wir ankreuzen wollten, war auf dem meterlangen Stimmzettel nur eine Zeile über der AfD aufgelistet, und da wäre uns dank Sichtbehinderung das Kreuz beinahe um eine Zeile nach unten verrutscht. Diese Fehlleistung ist der EU zumindest erspart geblieben. Für uns ist die optische Perspektive trotzdem wenig komfortabel. Denn es bleibt ja nur die Wahl: Sich mit der viel zu schwachen Ersatzbrille durch den Tag zu tasten oder offen mit dem Schicksalsschlag umzugehen und mit der zerhauenen Sehhilfe auf der Nase durch Wolfratshausen zu gehen, gerade so, als käme man von einer Rauferei im Stehausschank.

Bis die neue, leider verdammt teure Gleitsichtbrille in zwei Wochen fertig geschliffen ist, wird es wohl auf eine pragmatische Lösung hinauslaufen: zersplittertes Glas unter einer tief ins Gesicht gezogenen Fahrradmütze.

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