Süddeutsche Zeitung

Mitten in Wolfratshausen:Geduldsprobe vorm Rathaus

Die Arbeit eines Stadtrats nötigt Respekt ab. Das ehrenamtliche Engagement zuhörender Bürger aber noch mehr...

Kolumne Von Konstantin Kaip

Es muss an dieser Stelle einmal erwähnt werden, dass die Arbeit, die unsere Stadträte leisten, alles andere als selbstverständlich ist. Statt es sich am Feierabend mit der Familie gemütlich zu machen oder einem Hobby zu frönen, beugen sie sich in Sitzungssälen über Bebauungspläne und diskutieren leidenschaftlich über Dachwinkel, Abstandsflächen und Zuschussanträge. Zahlreiche Stunden opfern sie für eine geringe Aufwandsentschädigung, um das in ihren Augen Beste für die Bürger herauszuholen. Dem Reporter, der den Sitzungen von Berufs wegen oft bis in den späten Abend beiwohnen muss, nötigt das Respekt ab.

Noch bemerkenswerter ist aber, dass die Stadtratssitzungen in Wolfratshausen regelmäßig von Menschen besucht werden, die weder gewählt wurden, noch ihrer Arbeit nachgehen müssen. Sie kommen abends freiwillig ins Rathaus, statt ins Kino oder in die Wirtschaft zu gehen, nur um den Debatten zu folgen. Die Stadträte sollten das wiederum keinesfalls als selbstverständlich erachten. In Zeiten, in denen überall die zunehmende Politikverdrossenheit beklagt wird, ist das Publikum auf der Empore Gold wert.

In Wolfratshausen aber scheinen Bürgermeister und Stadträte wenig beeindruckt von ihrem Fanclub zu sein. Schließlich haben sie das Publikum bei ihrer jüngsten Sitzung nach einer guten halben Stunde kurzerhand des Saales verwiesen, um eine Stellendebatte dann doch ganz unter sich führen zu können. Man stelle sich das mal im Gasthaus vor: dass man nach der Vorspeise den Tisch räumen muss, weil der Wirt dort in Ruhe seine Abrechnung machen will. Kommt aus gutem Grund nicht vor? Eben. Vor dem Rathaus aber standen dann sechs Leute auf der Straße herum, erst ratlos und dann doch verärgert. "Man kommt her, weil einen die Tagesordnung interessiert, und jetzt werden wir rausgeschmissen", sagte einer. "Da kommt man sich schon verschaukelt vor." Trotzdem harrten die meisten von ihnen 35 Minuten aus, bis sie wieder in den Saal durften.

Bei allem Respekt: Das Vorgehen des Stadtrats wirkt angesichts des schwindenden Interesses an Politik fahrlässig. Wer sein Publikum so behandelt, braucht sich nicht zu wundern, wenn es irgendwann wegbleibt. Vielleicht war das ganze aber auch Taktik, um vor der Kommunalwahl neue Leute für die Parteilisten zu gewinnen. Nach dem Motto: Lass dich wählen, dann darfst du auch sitzen bleiben.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2019
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