Mitten in Wolfratshausen:Der frühe Vogel sorgt sich

Sorge Dich nicht, lebe - das hat Dale Carnegie schon 1948 den Lesern seines gleichnamigen Bestsellers empfohlen. Richtig neu war diese Weisheit aber schon damals nicht

Von Astrid Becker

Sorge Dich nicht, lebe - das hat Dale Carnegie schon 1948 den Lesern seines gleichnamigen Bestsellers empfohlen. Richtig neu war diese Weisheit aber schon damals nicht. Epikur hat Ähnliches bereits vor mehr als 2000 Jahren propagiert. Und was hat's genutzt? Nichts. Dem Menschen als solchem - zumindest wenn er in den hiesigen Breitengraden aufgewachsen ist und ihn kein existenzieller Kummer plagen müsste - ist all diese Weisheit, gelinde gesagt, total wurscht. "Sich Sorgen machen" ist in. Sogar sehr. Das hat einen einfachen Hintergrund: Der Mensch hierzulande ist überzeugt davon, dass, wer sorglos sein Dasein fristet, auch kaum zur Fürsorge fähig ist. So einer gilt also gemeinhin als recht oberflächlicher und gefühlskalter Tropf. Das will niemand sein. Also sorgen sich alle gern mal eine Runde. Erst einmal um die Familie. Dann um die Gesundheit. Natürlich auch um die Altersvorsorge - da steckt die Sorge ja schon im Wort. Wenn einem nichts anderes einfällt, sorgt man sich ums Wetter, und dann bleibt immer noch Weihnachten.

Eine prächtige Sorge ist das. Die Textilindustrie hat dies längst erkannt. Deshalb bringt sie bereits im Frühsommer Winterkleidung auf den Markt. Es könnte ja sein, dass der potenzielle Käufer, in diesem Fall meist Käuferin, in der kalten Jahreszeit mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt ist und keine Zeit zum Shoppen hat. Also zwängen sich die modebewussten Damen bei 30 Grad Außentemperatur nicht in Bikini und Badeanzug, sondern in dicke Wollmäntel, Kaschmirpullover und Schals. Warum sich die weiblichen Wesen das antun, fragen sich Männer oft. Aber auch da ist die Antwort einfach: Die Damen sorgen sich. Schließlich könnte es im Winter keine Winterkleidung mehr geben - und was bitte ziehen sie dann an Weihnachten an?

Ähnlich tickern die Süßwarenhersteller, wenn sie ihre Dominosteine und Lebkuchen unmittelbar nach dem Hochsommer anbieten. Das ist prima. Da schmecken die Dinger wenigstens noch frisch. Wer es nicht schafft, all die angehäuften Vorräte zu vertilgen, kann sie immer noch an Weihnachten weiterverschenken. Zum Beispiel an die Schwiegermutter - zusammen mit einem Gutschein für eine Frühjahrskur in einer Heilfastenklinik. Das wäre fürsorglich und gäbe einem das gute Gefühl, sich rechtzeitig Gedanken um die gute Frau gemacht zu haben. Getreu dem Motto "Avis matutina vermem capit". Zu Deutsch: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Dem folgt übrigens auch die Stadt Wolfratshausen. Dort kann man sich schon jetzt um einen Stand auf dem Christkindlmarkt bewerben. Wer das sofort erledigt, muss sich nicht sorgen, keinen mehr zu bekommen - womit wir wieder direkt bei Dale Carnegie sind. Der Untertitel seines Buches lautet: Die Kunst, zu einem von Ängsten und Aufregungen befreiten Leben zu finden. Mal schauen, wie viele Wolfratshauser es gelesen haben.

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