Mitten in der Region:Häuser mit Augen und Ohren

Wenn man sehr viel Zeit zuhause verbringt, etwa während einer Quarantäne, nimmt man die Welt da draußen anders wahr...

Glosse von BENJAMIN STOLZ

Wer hat sich als Kind nicht vorgestellt, dass die Fenster von Häusern Augen sind und die Türen zahnlose Münder? Um diese kindliche Illusion erneut zu erleben, genügt bereits eine Reise von Tirol zurück nach Hause. Die daraus folgende Quarantäne geht nämlich aufs Haus und der Isolierte 14 Tage aus ebendiesem nicht mehr nach draußen. In der eigenen Fantasie bekommen die Wände nach einiger Zeit wie früher weite Fensteraugen, die durch die Nachbarschaft spähen und einen hungrigen Mund, in den dankenswerte Helfer den Wocheneinkauf stellen. Dazu kommen gleich mehrere Ohren aus Metall und Beton, die Schallwellen aus dem ganzen Haus bündeln, und ein unsichtbares Riechorgan, das die Gerüche von draußen nach innen saugt. Der Quarantäne-Tag, so scheint es, vergeht in Sinnes-Abschnitten.

Vormittags ist die Zeit des Fensterauges. Ein Vater lädt seine beiden Kinder auf ein knallgrünes Lastenrad. Mittags scheint im Garten die Sonne, das Hörorgan des Hauses ist aktiv: Der Balkon der Nachbarn von oben wird zum ohrmuschelartigen Resonanzkörper, Wortfetzen dringen über die Fassade ins Erdgeschoss. Hin und wieder verirrt sich ein Eichhörnchen in den Garten. "Die kommen aus dem Forst", sagt die ebenerdige Nachbarin, Frau des Lastenradvaters und verschwindet durch den Mund ihrer Wohnung. Abends beginnt die Zeit der unsichtbaren Nase. Die Nachbarn im Erdgeschoss kochen Curry mit Kokosmilch, das Flüsterpaar oben grillt am Balkon und schweigt, während nur die Würstchen leise zischen. Fensteraugen und Mundtüren sind in der Nacht fest geschlossen, doch das Haus schläft nicht. Seine Organe, Wasserrohre und klopfende Wände, grummeln bis zum Morgen. Gut, dass die Quarantäne-Zeit bald endet.

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