Süddeutsche Zeitung

Mitten im Zug:Der S-Bahn sei Dank

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Wie der unzuverlässige Schienenverkehr die Menschen zusammenbringt

Kolumne von Leonard Scharfenberg

In wenigen Themen sind sich so viele Menschen in diesem Land so einig, wie in ihrer Abneigung gegen die Deutsche Bahn. Doch das Unternehmen ist völlig zu unrecht so unbeliebt. Wie wenn nicht als Bahnreisender, soll denn der moderne Mensch in seinem effizient durchgetakteten Arbeitsalltag noch unberechenbare Abenteuer erleben? Und wo könnte man die, von Arbeitgebern so oft geforderten "Soft Skills" Flexibilität, Teamfähigkeit und Belastbarkeit, besser erlernen, als beim gemeinsamen Warten auf einen Schienenersatzverkehr?

Die Bahn schafft mit ihrer Unzuverlässigkeit neue soziale Räume, in denen Smartphonezombies, Bücherwürmer, laut telefonierende Anzugträger und schüchterne Fenstergucker eine ungewohnte Schicksalsgemeinschaft bilden. Wo sonst kommen so unterschiedliche Menschen unkompliziert ins Gespräch? Spätestens wenn alle Fahrgäste entmutigt in einen SEV-Bus schlurfen, bekommt das Ganze einen Schulausflugscharakter. Eine stehende S-Bahn kann ihre Fahrgäste leicht zurück in die Zeiten längst vergangenen Kinderglücks befördern, in denen es noch keine großen Probleme gab. So wird eben auch geschimpft, als wäre eine "Weichenstörung" der Untergang der Welt oder aber mindestens der des Abendlandes.

Meist bessert sich die Stimmung nach einer Phase kollektiver Aggression aber schnell. Der Busfahrer meint vergnügt, er hätte die Gleise sabotiert und eine Reisende gibt eine kabarettreife Anti-SPD Tirade zum Besten. Am Ende trifft man dann zufällig den früheren Klassenlehrer, der dem gestrandeten Ex-Schüler anbietet, ihn im Auto mitzunehmen. Ohne die Bahn wäre das nie passiert.

Bahnstörungen können sich zu einem netten Kaffeeklatsch, erfrischenden Flirt oder einer angeregten politischen Diskussion entwickeln und so dem digital vernetzten aber real einsamen Smartphone-Individualisten ein spontanes und analoges Gruppenerlebnis bescheren. Die Fahrt mit der Bahn lässt eben nicht nur Geduldsfäden reißen, sondern auch Filterblasen platzen. Und manchmal machen die Begegnungen sogar Freude. Man reist nicht, wie Goethe trotz mangelnder Eisenbahnerfahrung treffend feststellte, um anzukommen, sondern um zu reisen.

Doch trotzdem: Auch im schnellen Erreichen des Ziels liegt eine gewisse Freude. So mancher Isartaler SUV-Fahrer könnte diese märchenhafte Erfahrung in Zukunft ja einmal mit verzweifelten Bahnfahrern teilen. Dann könnten die oft missmutig alleine in ihren panzerartigen Abgasschleudern sitzenden Fahrer mithilfe gestrandeter Fahrgäste ihre mobile Einsamkeit überwinden. Die S-Bahnreisenden kämen zudem in den seltenen Genuss einer pünktlichen Ankunft.

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Quelle:
SZ vom 15.03.2018
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