Missbrauchs-Prävention:Gute und schlechte Geheimnisse

"Bei wem dürft ihr im Auto mitfahren? Welche Leute darf man ins Haus lassen?" Anhand praktischer Beispiele werden Grundschüler für das Thema sexueller Missbrauch sensibilisiert, ohne dass ihnen Angst gemacht wird.

Sandra Schinnagl

Es ist kurz nach 18 Uhr. 24 Kinder tummeln sich in einem Klassenzimmer der Grundschule am Lettenholz. Es ist ihr zweiter Kursabend. Fritz Schwarm tritt vor die Klasse, ein grau melierter Mann mit ruhiger, doch nachdrücklicher Stimme. Er beginnt mit einer kurzen Wiederholung: "Könnt ihr euch erinnern, welche Leute man ins Haus lassen darf, wenn man alleine ist?"

Gewaltprävention

Auf spielerische und dennoch ernste Weise bringen Fritz Schwarm (li.) und Erwin Matheis im Selbstbehauptungskurs "Trau Dich - Wehr Dich" den Kindern bei, sich vor Übergriffen von Fremden oder Bekannten zu schützen.

(Foto: Manfred Neubauer)

Sofort melden sich die Mädchen und Jungen, um die richtige Antwort zu geben. "Und was macht man, wenn man jemanden nicht kennt und er am Telefon komische Fragen stellt?" Der kleine Florian weiß Bescheid: "Ich stell' einfach den Strom ab." Die Erwachsenen, die hinten im Klassenzimmer das Training verfolgen, bringt das zum Lachen. Doch das Thema ist ernst. Die Kinder lernen zum Beispiel, dass es sich um keinen echten Arzt handelt, wenn einer am Telefon von ihnen verlangt, sich zu untersuchen.

Kinder im Grundschulalter für sexuelle Übergriffe und Missbrauch zu sensibilisieren, ohne ihnen Angst zu machen - das ist die heikle Aufgabe von Fritz Schwarm und Erwin Matheis. In ihrem Selbstbehauptungskurs "Trau Dich - Wehr Dich" üben Mädchen und Jungen im Alter von sechs bis zehn Jahren, sich gegen Übergriffe von Fremden oder Bekannten zu behaupten. Sie lernen, was ein Ja- und ein Nein- Gefühl ist, wodurch sich ein schlechtes von einem guten Geheimnis unterscheidet.

Vier Abende und je zwei Unterrichtsstunden dauert der Kurs, bei dem auch die Eltern der Kinder dabei sind. Seit neun Jahren trainiert Fritz Schwarm, Polizeioberkommissar aus Bad Tölz, mit Erst- bis Vierklässlern oft erst harmlos erscheinende Situationen, die ihnen im Alltag widerfahren können, und bringt ihnen auf spielerische und dennoch ernste Art bei, wie sie sich verhalten sollen.

"Was ist ein Geheimnis, wer von euch weiß das?", wechselt er zum nächsten Thema. In den folgenden Minuten werden Stichworte gesammelt und an die Tafel geschrieben. Anlässe wie Muttertag, Weihnachten oder Ostern, zu denen die Kinder ihren Eltern etwas basteln, ohne es vorher zu verraten, stehen auf der linke Seite der Tafel - darüber der Ausdruck "Gutes Geheimnis". Schwieriger wird es bei der Frage, was ein schlechtes Geheimnis sei. "Wie heißt Einkaufen ohne Geld?" Einige im Raum lachen. "Klauen!", weiß ein Grundschüler.

Es fallen weitere Schlagworte wie "Schlägerei beobachten" oder "Etwas kaputtmachen". So füllt sich auch die rechte Seite der Tafel. Schwarm kommt zum Schluss: "Bei schlechten Geheimnissen geht es uns schlecht, man muss es jemandem erzählen, dem man vertraut, denn ein schlechtes Geheimnis soll nie ein Geheimnis bleiben.

Dann ist Zimmerer Erwin Matheis, der sich ehrenamtlich für die Aufklärung von Kindern bei heiklen Themen engagiert, an der Reihe. "Bei wem dürft ihr im Auto mitfahren?", fragt er. Schritt für Schritt geht er mit den Mädchen und Jungen durch, wie sie sich verhalten sollen, wenn ein Fremder im Auto anhält und sie in ein Gespräch verwickelt. Danach geht es darum, eben Gelerntes in der Praxis umzusetzen. Dafür werden vier Gruppen gebildet, von denen jeweils zwei mit Schwarm und Matheis ins Freie gehen. Die Eltern dürfen mitgehen, sollen jedoch etwas Abstand halten, um ihre Kinder nicht zu sehr zu beeinflussen.

"Wenn ihr ein Nein-Gefühl habt, rennt davon"

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Schwarm postiert seine Gruppe am Straßenrand und nimmt selbst etwas Abstand. Gespannt begutachten die Väter und Mütter ihre Sprösslinge, als ein weißer Lieferwagen anrollt und neben der Gruppe stehen bleibt. Erst beantworten die Kleinen ruhig die Fragen des Fahrers, der sich durch das geöffnete Fenster nach dem Weg erkundigt. Als er jedoch die Autotür aufmacht, laufen die Kinder schnell davon. "Sehr gut", lobt Schwarm, der nach jeder Übung die Situation mit seinen Schützlingen durchspricht, sie nach ihrem Gefühl und ihren Gedanken befragt.

Aufgeregt erzählen die Mädchen und Jungen das eben Erlebte. "Sobald der Fahrer komische Fragen stellt oder ihr ein Nein-Gefühl habt, dreht einfach um und rennt davon. Am besten ist es, wenn ihr dazu noch richtig laut schreit, dann geht auch das Nein-Gefühl weg", sagt der Polizist.

Sie finde es "sehr gut, wie realistisch der Kurs durch die Praxisbeispiele gemacht wird", sagt Liane Spiegelberg, Mutter des kleinen David, der die dritte Klasse der Lettenholzschule besucht. "Herr Schwarm bringt es den Kindern einfach gut nahe. Dass er Polizist ist, macht es für David noch attraktiver, da er selbst auch Polizist werden will." Was Spiegelberg besonders gefällt: Auch Eltern werden sensibilisiert für Situationen, die im Alltag auf die Kinder zukommen können. "Es wird schließlich auch relativ oft angerufen, wenn man als Eltern mal nicht daheim ist."

Die achtjährige Helena aus der dritten Klasse sagt selbstbewusst: "Lernen tu' ich nicht so viel." Sie wisse eigentlich schon alles von daheim. Das Training könne immer hilfreich sein, meint indes die zehnjährige Leandra, die vor zwei Jahren am gleichen Kurs teilnahm. Jetzt macht ihr Bruder mit. Einmal habe schon jemand gefragt, ob sie mitfahren wolle, "da hab' ich dann auch geschrien und bin weggerannt".

Über die Schwierigkeit, das Selbstbewusstsein und die Sensibilität der Kinder zu stärken, ohne ihnen vor alltäglichen Dingen oder Personen Angst zu machen, sagt Matheis: "Am ersten Kurstag haben sie gelernt, dass sie nicht bei jedem Menschen, der sie etwas fragt, wegrennen müssen." Grundsätzlich gelte aber: "Lieber einmal zu viel wegrennen als einmal zu wenig."

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