Mein Europa:70 Jahre ohne Krieg

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Evangelos Karassakalidis schätzt das friedensstiftende Miteinander.

Von Thekla Krausseneck

28 Mitgliedsstaaten hat die Europäische Union, als vorerst letztes Land kam 2013 Kroatien dazu. Vom 22. bis 25. Mai dürfen die gut 507 Millionen Menschen das Europa-Parlament neu wählen. Die Grenzen sind offen, wer will, kann sich in einem anderen Land der EU Wohnung und Arbeit sichern. Menschen aus den meisten Mitgliedsstaaten leben auch im Landkreis. Die SZ stellt einige von ihnen vor.

Der Grieche Evangelos Karassakalidis erinnert sich glasklar an den Tag seiner Ankunft in Deutschland. Er war zwölf Jahre alt und in einem 300-Einwohner-Dorf aufgewachsen - schlechte Straßen, kaum Autos, die nächste Stadt, Xanthi, 50 Kilometer entfernt. Nicht einmal Fahrräder gab es dort. Und dann, an einem Tag im August 1971, stand er in einer anderen Welt: München, die deutsche Großstadt, in der - wie er gleich feststellte, als er aus dem Zug ausstieg - ziemlich viele Männer Bärte trugen. Das kannte der junge Karassakalidis bis dahin nur von griechischen Pfarrern, weshalb er zunächst dachte, diese Männer müssten alle Pfarrer sein.

Mit dem Taxi ging es vom Bahnhof nach Geretsried, wo seine Eltern seit sechs Jahren als Gastarbeiter tätig waren. Die Mutter arbeitete in einer Kunststofffabrik, die Kühlschrankdichtungen anfertigte, der Vater bei Speck-Kolbenpumpen. Die Familie zog in einen ehemaligen Bunker am Fasanenweg, den die Firma Speck angemietet hatte. Sieben griechische Familien wohnten dort in jeweils ein bis zwei Zimmern, alle mit Kindern. Isolation war deshalb nichts, was Karassakalidis als Kind von Auswanderern erleben musste: Zusammen mit den anderen Kindern spielte er Fußball auf einer Lichtung im Wald, der damals zwischen Fasanenweg und Böhmerwaldstraße stand. Dort lernte er auch das Fahrradfahren. Er lieh sich das Fahrrad seines Vaters, der damit regelmäßig in die Arbeit fuhr, schob es in den Schwalbenweg und unternahm, angeschoben von anderen Kindern, seine ersten Versuche.

Griechenland trat der EU 1981 bei, als der spätere Geretsrieder CSU-Stadtrat Karassakalidis gerade als 22-Jähriger Wirtschaftsinformatik studierte und andere Dinge im Kopf hatte als die Politik. Aber eines weiß er noch ziemlich genau: Sein Vater musste nicht mehr alle zwei Jahre aufs Amt gehen, um seine Arbeitserlaubnis zu verlängern. Da er schon so lange in Deutschland gewesen war, bekam er eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Wer von da an aus Griechenland nach Deutschland kam, dessen Arbeitserlaubnis wurde auf fünf Jahre begrenzt.

Karassakalidis ist ein erklärter Befürworter der EU, die er für sehr wichtig hält. "Eine Periode von 70 Jahren ohne Krieg - das hat es noch nie gegeben", sagt er. Er schätze es sehr, dass man sich in Europa frei bewegen und jeden Mitgliedsstaat besuchen könne. Auch das Miteinander unter den Menschen funktioniere gut. Gerade in Geretsried habe er das kürzlich bei der Kommunalwahl gesehen: Nach 18 Jahren im Stadtrat ist Karassakalidis erstmals nicht mehr angetreten. Als Vertreter der Griechischen Gemeinde in Geretsried, deren Vorsitzender er ist, wird Christos Saridis von Mai an im Stadtrat sitzen. Er hatte, obwohl relativ unbekannt und erst 28 Jahre alt, auf Anhieb 3097 Stimmen erhalten. Karassakalidis wertet das als Unterstützung der Griechen. "Es ist ein kleines Europa hier, wo die Menschen verschiedener Nationen leben können", sagt er. Zur EU-Wahl werde er diesmal in Geretsried gehen, und nicht wie sonst im griechischen Konsulat in München. Denn mit der Politik in Griechenland sei er schon lange nicht mehr einverstanden, deshalb wolle er auch keine griechischen Parteien wählen.

Trotzdem: Griechenland ist und bleibt seine Heimat. Seine Eltern sind mittlerweile nach Griechenland zurückgekehrt. Auch Evangelos Karassakalidis, jetzt 55 Jahre alt, spielt mit dem Gedanken, im Alter wenigstens für ein paar Jahre zurückzugehen. Die Menschen, das Wetter - alles sei dort anders. Geretsried sei ihm zwar so sehr ans Herz gewachsen, dass ihm Kritik an der Stadt persönlich wehtue, trotzdem sei es nur seine zweite Heimat.

© SZ vom 14.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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