Süddeutsche Zeitung

Lesung im Badehaus Waldram:"Ich hatte nur noch Angst"

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Wie Dagmar Nick ihre Kindheit unter den Nazis erlebt hat

Dagmar Nick erzählt in fast versöhnlich klingendem Erzählton und mit feinem Humor, was sie als Jüdin in Nazideutschland erlebt hat. Dennoch schmerzt es, von den Gräueln der braunen Schergen zu hören: die Todesspritzen mit Benzin direkt ins Herz, die Schläge ins Gesicht, von denen sie erfuhr. Mit dem Anfang des bekannten Volkslieds "Kein schöner Land" fasst die Dichterin vor den aufmerksam lauschenden und sichtlich bewegten Gästen am ersten Geburtstag des Erinnerungsorts Badehaus in Waldram die Szenen ihrer Lesung zusammen.

Die 93-Jährige, der man ihr hohes Alter kaum ansieht noch anmerkt, war 16 Jahre alt, als sie in weißer Bluse und blauem Rock als BDM-Mädel im dritten Kriegsjahr Geld sammeln musste in Berlin auf dem Kurfürstendamm. Ein "SA-brauner Mensch" habe sie dennoch als jüdisch-stämmig erkannt, weil sie weder Krawatte noch Lederknoten tragen durfte. Als sie heimkam, "sah ich Menschen mit Kreidegesichtern in einem Möbelwagen sitzen zum Abtransport". Da wusste sie, der Tag war gekommen. Eine Tuberkulose hat die Lyrikerin, die schon mit vier Jahren ihre ersten Verse schmiedete, vor weiteren Einsätzen mit Büchse und Uniform und Übergriffen durch die Nazis gerettet.

In Breslau als Tochter des Komponisten Edmund Nick und der Sängerin Käte Nick-Jaenicke geboren, wurde die Familie nach Berlin verfrachtet und später nach Reichenbach in Böhmen evakuiert. Von dort rettete sich die Familie im Februar 1945 mit einem der letzten Flüchtlingszüge zunächst nach Lenggries zu einem Onkel. "Ich hatte keine Ahnung von Flucht, ich hatte nichts mehr im Leben, nur noch Angst." Und dies vier Tage und fünf Nächte lang. Die studierte Graphologin schrieb dann das berühmte Gedicht "Flucht" - und Erich Kästner, der ihren Vater vom Kabarett "Schaubude" kannte, sorgte dafür, dass es in der Neuen Münchner Zeitung veröffentlicht wurde.

Erheiternd fanden die Geburtstagsgäste die Einspielung eines Liedes, das Sänger Hans Albers mit wenig Schmalz in der Stimme zum Besten gab. Ein Exkurs in die Musik sei das gewesen, gestand Dagmar Nick lächelnd. Kommentiert habe Albers ihren Liedtext so: "Das ist also das Fräulein Goethe." Die junge Frau schrieb weiter lieber Gedichte mit lebendigen Bildern, voller Tiefe, unprätentiös und oft mit einem humorvollen Seitenblick. Die vielfach preisgekrönte Dichterin, die oft in einem Atemzug mit Hilde Domin oder Rose Ausländer genannt wird, verfasste daneben Bücher, literarische Reiseerzählungen, Hörspiele. In ihrem neuesten Werk "Eingefangene Schatten" beschreibt sie in ihrem lockeren, dennoch präzisen Erzählton rund 400 Jahre ihrer Familie. Die Frage, wo ihre Heimat sei, beantwortete sie so: "Zu Hause bin ich, wo die deutsche Sprache ist."

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SZ vom 22.10.2019 / szb
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