Süddeutsche Zeitung

Leonhardifahrt Bad Tölz:Riesenrösser und ein Engel im Schoß

Rund 14 000 Zuschauer verfolgen die Tölzer Leonhardifahrt, die trotz eines Schreckmoments unfallfrei verläuft. Für Josef Janker war es die letzte Wallfahrt als Bürgermeister. Er erinnert sich an lustige und schmerzliche Momente.

Von Klaus Schieder

Am Ende mischte sich Josef Janker noch in Zylinder, Gehrock und Amtskette unter die Zuschauer der 164. Leonhardifahrt. Am Straßenrand plauderte er mit einer jungen Mutter, nahm mit dem Smartphone das eine oder andere Foto von den Pferdegespannen samt Truhen- oder Tafelwagen auf, die unterm den Khanturm hindurch rumpelten, und ging dann ins Pfarrheim Franzmühle. Zum letzten Mal begrüßte er dort als Tölzer Bürgermeister die Amtskollegen aus den Nachbargemeinden und die Gäste aus Partnerstädten Vichy und San Giuliano Terme, zum letzten Mal erinnerte er an verstorbene Leonhardifahrer, zum letzten Mal dankte er Fuhrleuten, Feuerwehren, Rettungskräften, Sicherheitsdiensten, Helfern - vor allem aber dem Herrgott, dass die Traditionswallfahrt heuer unfallfrei über die Bühne ging. "Sicher denke ich, es war schön, aber es ist halt jetzt nimmer", sagt er zu seiner letzten Leonhardifahrt als Bürgermeister.

Rund 14 000 Zuschauer säumten am Mittwoch die obligatorische Strecke vom Badeteil über die Fußgängerzone hinauf zum Kalvarienberg und wieder hinab in die Marktstraße und auf der Salzstraße zur Mühlfeldkirche. 24 Mal absolvierte Janker diese Route im roten Wagen des Stadtrats an der Spitze der Zugfolge. Sechs Jahre als Stadtrat, sechs Jahre als Zweiter Bürgermeister, zwölf Jahre als Bürgermeister. Mal war es nass wie diesmal am Vormittag, mal sonnig-kalt wie dann am Mittag. Aber trotz aller Routine hat sich bei ihm nie so recht ein Gewöhnungseffekt eingestellt. "Es ist immer wieder etwas Außergewöhnliches", sagt Janker, hält inne, sucht nach dem rechten Wort, findet es nicht. "Das kann man nicht beschreiben."

Im Gedächtnis wird ihm vor allem die Leonhardifahrt vor drei Jahren bleiben, als der Stadtratswagen vom Rathaus gerade in die Marktstraße fuhr. Das Gefährt zieren drei Engel, wovon der mittlere plötzlich heftig zu wackeln begann. "Es sah aus, als ob er davonfliegen möchte", erzählt Janker. Zunächst versuchte er, die Schrauben, die sich gelöst hatten, zu finden, dann probierte er, die Figur irgendwie anders wieder am Wagen zu fixieren. Alles vergebens. Am Ende nahm er den Engel auf den Schoß und behielt ihn dort während der ganzen Fahrt. Des Gefrotzels einiger Stadträte, die mit ihm im Wagen saßen, durfte er sich sicher sein: "Sie können sich vorstellen, wie die gelacht haben."

Ansonsten geht es in diesem Gespann durchaus ernst zu. Das liegt an den gestrengen Regeln der Tölzer Leonhardifahrt. So ist es den Herren und Damen Mandatsträgern untersagt, ins Publikum zu winken oder gar mit dem Zylinder zu wedeln. Allenfalls ein kurzes Kopfnicken ist erlaubt, wenn sie einen Bekannten im Publikum sehen. Vorgeschrieben sind auch Gehrock, Zylinder und - für Männer - die Tölzer Krawatte, ein dunkler Anzug würde als Alternative gerade noch akzeptiert. Für die Frauen gehört sich Trachtenmantel und Dirndl. Ein wenig sehen die Stadträte in diesem Outfit aus, als wären sie aus der Zeit gefallen. Janker erinnert sich an ein Kind, das bei diesem Anblick rief: "Mama schau mal, lauter Zauberer." Und was den roten Wagen betrifft, schreibt das Regelwerk noch etwas vor: Andere Honoratioren dürfen darin nicht mit übers Kopfsteinpflaster rattern, und seien sie noch so prominent. Käme der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und würde aufsteigen wollen, müsste er ihm dies verweigern, sagt Janker. "Das ist eine Auszeichnung ausschließlich für Stadträte."

Die Tölzer Leonhardifahrt hat sich seit 164 Jahren kaum verändert, und das findet der scheidende Rathauschef auch gut so. Deshalb war es für ihn "der Clou", dass die traditionelle Wallfahrt vor zwei Jahren in das immaterielle Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. "Das ist ein gewisser Schutz, denn da lassen wir uns nicht dreinreden", sagt er. Die alten Bremsklötze und -stangen an den historischen Truhen- und Tafelwagen, die Eisenbereifung, die fehlenden Leuchten - all dies wäre nach der Straßenverkehrsordnung eigentlich verboten. Würde sie für die Leonhardifahrt gelten, "dann hätten wir Hydraulikbremsen, Gummireifen und Leuchten nach StVO", sagt Janker.

Als er noch ein Kind und die Welt für ihn groß war, erlebte er die Traditionswallfahrt vor allem auch als Fest der Familie. "Da kommen die Leute zusammen", sagt er. Immer sei am 6. November die Verwandtschaft in seinem Elternhaus an der Osterleite zu Besuch gewesen, "20 Leute, mindestens". Für alle gab es dann Weißwürste und Brezen, "da war viel bei uns los". Und während der Leonhardifahrt erschienen Janker als kleinem Buben die Pferde als "imposante Riesenrösser", die Vorreiter als "würdige Erscheinungen". Damals, sagt er, seien das aber auch "gesetzte Mannsbilder" gewesen. Noch immer sieht er den Tölzer Nationalfeiertag als einen Familientag. In seinem Bekanntenkreis kennt er zum Beispiel einen jungen Studenten, der dazu eigens aus Italien anreist. "Da trifft man sich in der Familie, da trifft man Freunde, die man lange nicht gesehen hat". Fast so wie an Weihnachten.

In seiner Amtszeit als Bürgermeister hat Janker auch unerfreuliche Leonhardifahrten erlebt. Vor zehn Jahren säumten etwa 20 000 Zuschauer die Straßen in Tölz, darunter so manche, die sich in den sozialen Medien zur Sauftour verabredet hatten und nachts betrunken in der Marktstraße lagen. Dies falle für ihn unter die Rubrik "ärgerlich", sagt Janker. Diesen Exzessen, die deutschlandweit für Schlagzeilen sorgten, machte er als Rathauschef alsbald ein Ende. Und dann gab es da die schlimmen Unfälle: die schwer verletzten Schalkfrauen, als 2014 auf dem leicht schneebedeckten Kalvarienberg ein Truhenwagen umkippte, der verletzte Reiter aus Lenggries im Vorjahr. "Das ist schlimm und belastend für alle", sagt Janker. Und auch am Mittwoch erlebten die Zuschauer in der Salzstraße einen Schreckmoment: Ein Gespannführer, dem seine Rösser unter dem Khanturm durchgingen, wäre in der Salzstraße fast in die Menschenmenge auf dem Gehsteig geraten. Zu Schaden kam laut Polizei gottlob niemand.

Künftig wird Janker die Leonhardifahrt aus einer anderen Perspektive erleben. 2020 wird er voraussichtlich neben den anderen Altbürgermeistern und Honoratioren auf der Holzehrentribüne in der Marktstraße stehen, später ins Pfarrheim Franzmühle gehen und seinem Nachfolger zuhören, der die Gäste begrüßt, den Fuhrleuten dankt, der Verstorbenen gedenkt. "Irgendwann ist es dann halt nicht mehr", sagt er. "Aber es war toll, jedes Mal wieder."

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SZ vom 07.11.2019
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