Süddeutsche Zeitung

Lebenshoffnungen:Mit einem Schlag zerstört

Seit Afghanistan offiziell als sicher gilt, droht vielen Menschen die Abschiebung. In Wolfratshausen bangt ein 17-Jähriger um seine Zukunft, in Egling trifft die Härte der Politik sogar zwei Schwangere. Eine Kochler Familie, die Folter und Gewalt erlebt hat, soll nach Ungarn ausreisen

Von Konstantin Kaip und Petra Schneider, Bad Tölz-Wolfratshausen

Seit Afghanistan Ende vergangenen Jahres als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, hat sich die Lage der afghanischen Flüchtlinge in Deutschland dramatisch verschlechtert. Immer mehr Asylanträge werden abgelehnt, die Abschiebungen häufen sich, wer noch auf einen Bescheid wartet, darf oft nicht arbeiten oder eine Ausbildung anfangen. Die prekäre Situation frustriert auch die Flüchtlingshelfer im Landkreis, wo zahlreiche Afghanen leben. Sie sehen ihre jahrelange ehrenamtliche Integrationsarbeit durch die Praxis der Behörden ausgehebelt. Am Samstag sind deshalb mehr als 1000 Flüchtlingshelfer aus ganz Bayern - darunter mehr als 50 aus den Helferkreisen im Landkreis - in einer Sternfahrt nach München gefahren. Dort haben sie die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger auf die Missstände in der Asylpolitik aufmerksam gemacht. Die erleben die Helfer in nicht nachvollziehbaren Amtsentscheidungen, die für die Afghanen Schicksalsschläge sind. Drei Beispiele aus drei Gemeinden:

Kochel am See

Alles, was sich die Familie Nazimi in den vergangenen dreieinhalb Jahren in Kochel aufgebaut hat, könnte mit einem Schlag zerstört werden: Die afghanische Familie mit vier Kindern soll nach Ungarn abgeschoben werden. In dem "sicheren Drittstaat" hatte sie zunächst Zuflucht gesucht. Ein furchtbarer Schlag, "der Familie geht es ganz schlecht", sagt Ralf Kriegel vom Kochler Helferkreis. Denn die Nazimis haben begonnen, sich in Kochel eine neue Heimat aufzubauen: Vater Munir hat eine Ausbildung zum Krankenpflegehelfer in Penzberg gemacht und arbeitet in Vollzeit im Pater-Rupert-Mayer-Seniorenheim in Kochel. Im Herbst sollte er dort einen unbefristeten Arbeitsvertrag bekommen. Wenn die Kinder Hasti, 1, Hegran, 4, Noor, 7, und Sahil, 9, größer sind, wollte er eine Fortbildung zum Krankenpfleger anhängen. Munir bringt sich in der Gemeinde als ehrenamtlicher Übersetzer ein. Alle Mitglieder der Familie sprechen Deutsch und seien bei Veranstaltungen wie Sommerfesten oder Weihnachtsmarkt als Helfer "immer vorn dabei gewesen", sagt Kriegel. Die Abschiebung kann er nicht nachvollziehen. "Die, die sich gut integriert haben und einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, die sollen doch bleiben dürfen."

Die Nazimis haben Schreckliches durchgemacht: Verfolgung und Folter durch die Taliban, Flucht und insgesamt vier Jahre in ungarischen Flüchtlingslagern - "eine Aneinanderreihung von Traumata", sagt Flüchtlingshelferin Elisabeth Voigt. Kürzlich kam der Abschiebebescheid: Ungarn habe zugesagt, die Familie zurückzunehmen. Seitens der deutschen Behörden werde plötzlich so getan, "als sei in Ungarn für Flüchtlinge alles bestens", sagt Kriegel. Die Nazimis haben andere Erfahrungen gemacht: Unmenschliche Bedingungen in den Flüchtlingslagern. Als Munir protestierte, sei er verprügelt worden. Menschenrechtsorganisationen wie das Helsinki Komitee verurteilen die von der ungarischen Regierung Anfang Januar erwogene "Schutzhaft" für alle Asylbewerber als Verstoß gegen europäisches Recht. Auch Human Rights Watch weist immer wieder auf die schwierigen Bedingungen für Asylbewerber entlang der Balkanroute hin. Mehrmals wurde der Asylantrag der Nazimis in Ungarn abgelehnt; sie flüchteten nach Österreich, wurden nach Ungarn zurückgeschickt und flohen schließlich nach Deutschland. Nach dreieinhalb Jahren in Kochel sollen sie wieder weg, der Abschiebebescheid kam vor zwei Wochen.

Vermutlich war das Interview von Mutter Sanita beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Herbst der Auslöser. Dabei seien die Geschichte der Familie rekonstruiert und Abschiebebescheide für alle ausgestellt worden. Ein Interview mit Vater Munir wurde nie geführt. Die Familie hat Klage gegen den Bescheid eingereicht. Erfahrungsgemäß dauere ein Verfahren Monate, sagt Kriegel. "Wir haben die Familie beruhigt, dass sie erst mal nicht weg muss." Die bürokratischen Mühlen mahlen indes weiter: Am Montag wurde Munir vom Landratsamt informiert, dass künftig die Ausländerbehörde der Regierung von Oberbayern für ihn zuständig sei. "Der Ausweis wurde eingezogen, und er hat keine Arbeitserlaubnis mehr", sagt Voigt. Dass die Familie von Ungarn nach Afghanistan geschickt wird, ist unwahrscheinlich. Zumindest auf dem Papier: Im Abschiebebescheid des BAMF sei ausdrücklich vermerkt, dass die Familie nicht dorthin gebracht werden dürfe, sagt Voigt. "Aber ob das auch in Ungarn gilt?" Nach dem Bescheid ist eine Welle der Unterstützung in der Gemeinde angerollt: Lehrer der Kinder, Kollegen des Vaters und der Helferkreis setzen sich für die Familie ein. "Das ist eine absolute Fehlentscheidung", sagt Voigt. "Was man dieser Familie antut, können die Verantwortlichen gar nicht ermessen." Die Nazimis sind nicht der einzige Fall in Kochel: Auch die Familie Khalili hat einen Abschiebebescheid bekommen - allerdings gleich zurück nach Afghanistan.

Wolfratshausen

Mustafa Ebrahimi sieht aus wie viele Jugendliche an der Wolfratshauser Hammerschmiedschule: Baseballcap, Kopfhörer, Turnschuhe und Jeans mit eng geschnittenen Hosenbeinen, wie Teenager sie eben tragen. Der 17-Jährige spielt gern Fußball und liebt Hip Hop-Musik. Aber er macht auch etwas, was andere in seinem Alter eher nicht tun würden: An den Wochenenden geht er ins Wolfratshauser AWO-Seniorenzentrum am Paradiesweg, um den dementen Bewohnern Gesellschaft zu leisten, mit ihnen zu reden, zu malen und ihnen beim Essen zu helfen - freiwillig. Er habe dort ein Praktikum gemacht, sagt er, und komme seitdem gern zu Besuch. "Es gefällt mir, mit Menschen zu arbeiten."

Für das Seniorenheim ist der 17-Jährige ein Glücksfall. Nicht nur die älteren Bewohner schätzen seine liebevolle Art. Auch die Einrichtungsleitung freut sich. "Wir erleben ihn als höflichen, zuvorkommenden jungen Mann", sagt der Leiter des Seniorenzentrums, Dieter Käufer. "Die Herzlichkeit und Offenheit, mit der er auf ältere Menschen zugeht, sind ungewöhnlich." Käufer hat dem Jungen deshalb eine Ausbildung in der Altenpflege angeboten, wenn er den qualifizierten Hauptschulabschluss schafft. Mustafa Ebrahimi kann sich das gut vorstellen. Ob er die Ausbildung machen darf, ist aber fraglich. Denn Mustafa Ebrahimi ist Afghane.

"Im Moment ist alles unklar", sagt Annette Heinloth von der Inselhaus Kinder- und Jugendhilfe, die Ebrahimi betreut. Vor allem die Rechtslage. Ebrahimis Verfahren läuft, die Anhörung hat stattgefunden, er wartet auf das Ergebnis. Wird der Antrag abgelehnt, droht ihm die Abschiebung nach Afghanistan - in ein Land, das er gar nicht kennt. Mustafa Ebrahimi war gerade zwei Jahre alt, als dort Krieg ausbrach und seine Eltern mit ihm und seinen drei Geschwistern nach Iran flüchteten. Er wuchs in der Nähe von Teheran auf - unter schwierigen Bedingungen. Als Illegaler ohne Pass durfte er keine Schule besuchen. Schon als Kind, erzählt er, musste er arbeiten und seinem Vater als Tagelöhner helfen, meist auf Baustellen. Als Jugendlicher hatte er davon genug. "Ich konnte so nicht leben, ohne Schule, ohne richtige Arbeit. Ich durfte nichts", sagt Ebrahimi. Mit ein bisschen Geld, das er gespart hatte, zog er los und schloss sich einer Gruppe von Flüchtlingen an. Seine Eltern habe er erst von unterwegs angerufen, sagt Ebrahimi. Insgesamt fünf Monate war er unterwegs, meist zu Fuß, durch die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Slowenien. Schlepper brachten die Gruppe über Berge und durch Wälder hindurch. Schließlich kam Ebrahimi mit dem Zug nach Deutschland und wurde von der Polizei aufgegriffen. Er landete in Starnberg und wurde ins Inselhaus nach Eurasburg gebracht, für eine Nacht. Dann kam er in eine Erstaufnahmeeinrichtung nach Hallbergmoos. Nach einigen Monaten und seinem ersten Deutschkurs suchten die Betreuer eine dauerhafte Bleibe, und Ebrahimi erinnerte sich ans Inselhaus, wo er seitdem mit anderen Jugendlichen wohnt. Mit 16 Jahren ging er endlich zum ersten Mal in seinem Leben in die Schule: in eine Übergangsklasse der Mittelschule am Hammerschmiedweg. Er lernte schnell, vor allem Deutsch. Vorigen Sommer konnte er in eine Regelklasse wechseln und den Quali versuchen. "Wenn das klappt, ist das Rekordgeschwindigkeit", sagt Heinloth.

Seitdem lernt Mustafa Ebrahimi viel, nimmt zweimal die Woche Mathe-Nachhilfe und hat kaum noch Zeit zum Fußballspielen. Nur das Boxtraining beim Integrationsverein "Edelweiß" in Geretsried lässt er sich nicht nehmen. Und auch nicht die Musik: Seit kurzem lernt er Gitarre, schreibt Hip-Hop-Songs. "Wenn ich Zeit habe, schreibe ich Texte", sagt Ebrahimi - Reime auf Persisch. Zur Veranschaulichung rappt er einige Takte, und der sonst bedächtig sprechende 17-Jährige wird zu einer Sprechgesangsmaschine, reiht rhythmische Wortketten in atemberaubender Geschwindigkeit aneinander. Seine Mitschüler verstünden zwar nichts, sagt Ebrahimi und grinst. "Aber es gefällt vielen." Auf Deutsch zu schreiben sei schwierig: "Ich muss viel mehr Wörter lernen."

"Negativbescheid" kennt er schon. Es ist ein Wort, das wie ein Damoklesschwert über seiner Zukunft hängt. "Ich kann nicht nach Afghanistan", sagt der 17-Jährige entschieden. Auch nicht nach Iran. Dort dulden sie nur afghanische Frauen und Kinder. Seine Mutter, zwei jüngere Brüder und eine ältere Schwester leben noch dort. Mustafa Ebrahimi vermisst sie. Sein Vater ist seit fünf Monaten verschwunden. "Niemand hat von ihm gehört", sagt Ebrahimi. Vermutlich wurde er aufgegriffen und nach Afghanistan zurückgebracht. "Eine Abschiebung wäre eine große Tragödie", sagt Heinloth. "Afghanistan ist nicht sicher. Mustafa hat dort keine Verwandtschaft, keinen Bezug zum Land."

Der Jugendliche will lieber nicht darüber sprechen. "Ich will hier bleiben,", sagt er nur. Und meint damit auch die Gruppe des Inselhauses in Eurasburg, wo er mit 17 anderen Kindern und Jugendlichen lebt, betreut von Sozialpädagogen. "Ich habe hier meine Freunde, wir sind wie eine Familie." Ob er dort bleiben kann, ist allerdings ungewiss, sagt Heinloth: Im Mai wird er 18, dann endet die Jugendhilfe. "In der Zeit, in der er sich aufs Quali vorbereiten muss." Mustafa Ebrahimi hat beim Jugendamt bereits eine Verlängerung der Jugendhilfe beantragt. Wenn er den Schulabschluss schafft und bleiben darf, würde er am liebsten nach zwei weiteren Schuljahren die Mittlere Reife machen. "Ich gehe gern zur Schule", sagt Ebrahimi und lächelt. Noch ein Unterschied zu vielen Teenagern.

Egling

Im Eglinger Ortsteil Deining leben 15 Flüchtlinge in einer gemeindeeigenen Unterkunft mitten im Ort, die meisten Afghanen. Unter ihnen sind zwei schwangere junge Frauen. Sie erleben derzeit die ganze Härte der Flüchtlingspolitik, berichtet Michael Dillmann. Eine von ihnen solle sogar abgeschoben werden, sagt der Künstler, der den Flüchtlingen Deutschunterricht gibt. Die 19-Jährige erwarte ihr drittes Kind. Weil sie aber bei der Anhörung zu ihrem Asylverfahren noch nichts von ihrer neuerlichen Schwangerschaft gewusst habe, sei der Negativbescheid gekommen. Die Schwangere, ihr Mann und ihren beiden Kinder müssten zurück nach Afghanistan - "in ein Land, das sie nicht kennen", wie Dillmann sagt. Denn beide seien schon als Kinder mit ihren Eltern nach Iran geflüchtet und dort aufgewachsen. Die andere Schwangere dürfe zwar bleiben, sagt Dillmann. Doch ihr Mann müsse Deutschland laut Bescheid verlassen.

Der Deininger kann die Amtsentscheidungen nicht nachvollziehen. "Ich habe das Gefühl, das ist Willkür", sagt er. "Die Politik will vor der Wahl ihre Haut retten." Die 19-Jährige und ihr Mann hätten inzwischen per Anwalt Einspruch gegen die Ablehnung eingelegt. Die Aussichten seien ungewiss. Der Mann der anderen Frau habe seinen Bescheid gerade erst erhalten. "Der Frust sitzt auch bei den Helfern tief", sagt Dillmann. Die 19-Jährige etwa verpasse keine Unterrichtsstunde und spreche schon sehr gut Deutsch. "Wir haben uns Mühe gegeben, ihnen die Sprache beizubringen, und dann soll alles umsonst sein."

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Quelle:
SZ vom 07.03.2017
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