Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Alltagshilfe gegen die Überlastung

Die regionale offene Behindertenarbeit der Lebenshilfe kümmert sich um Familienangehörige mit Beeinträchtigung. Doch Pandemie und Personalmangel machen die Arbeit herausfordernd.

Von Benjamin Engel, Bad Tölz-Wolfratshausen

Eine Feuerschutztür soll Leben retten und kann doch zur tödlichen Falle werden. Das mag den meisten Menschen zunächst nicht bewusst sein. Doch wenn durch eine körperliche Beeinträchtigung die Kraft fehlt, die Tür zu öffnen, kann es schnell existenzbedrohend werden. Genau damit sah sich Dagmar Steiner von der regionalen offenen Behindertenarbeit (ROB) der Lebenshilfe im Landkreis konfrontiert, als ein Mann aus einem Mehrparteienhaus Beratung suchte. Das ist nur ein Beispielfall, warum Menschen mit Beeinträchtigungen oder deren Angehörige Unterstützung brauchen, berührt aber den Kern der Tätigkeit bei der ROB.

Die Einrichtung hilft weiter, damit Betroffene trotz ihrer Beeinträchtigungen zu Hause in der Familie wohnen können. "Jeder Mensch, der sich bei uns in irgendeiner Form meldet, bringt einen ganz individuellen Lebenslauf mit, auf den wir uns einlassen müssen", erklärt Steiner. Die Sozialpädagogin leitet den Familienunterstützenden Dienst (FuD) innerhalb der ROB - eine der drei Säulen, auf denen das Konzept ruht. Dafür kommen ehrenamtliche Mitarbeiter direkt zu betroffenen Familien nach Hause und unterstützen diese im Alltag. Genauso berät das ROB-Team Familien, etwa wenn es um Leistungsansprüche aus der Pflegeversicherung, Schulbegleiter oder um die Ausstellung eines Behindertenausweises geht. Als drittes organisiert die ROB Freizeit-, Bildungs- und Begegnungsaktivitäten.

So mannigfaltig wie die Art der körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigung - vom Down-Syndrom, Folgeerscheinungen nach einer Gehirnhautentzündung oder Unfällen über Mukoviszidose bis zu Autismus-Spektrums-Störungen - sind die Gründe, deretwegen Familien Rat und Hilfe suchen. Selbst ein gut eingespieltes familiäres Betreuungsnetz kann plötzlich an Grenzen stoßen. Etwa wenn Kinder mit drei, vier Jahren in eine Kindertagesstätte wechseln, der Schulbesuch oder Berufseinstieg ansteht oder es darum geht, in die erste eigene Wohnung zu ziehen. Ebenso können psychosoziale Schwierigkeiten aufkommen, etwa weil der Angehörige mit Beeinträchtigung keine Freunde findet oder seine Freizeit nicht selbständig gestalten kann. Dies kann so herausfordernd werden, dass ein geregelter Familienalltag kaum noch möglich ist. "Viele sind überlastet, sagen, wir schaffen das nicht mehr", berichtet Steiner.

Bis Menschen Hilfe suchen, dauert es manchmal. Noch immer herrsche Unwissenheit über Unterstützungsmöglichkeiten. Manche schämten sich, ihre eigene Situation offenzulegen, so die Leiterin im Familienunterstützenden Dienst der ROB. Aktuell betreut das Team laut Steiner 150 bis 170 Menschen mit Beeinträchtigung und deren Familien im Landkreis. Die FuD zielt darauf ab, Angehörige soweit im Alltag zu unterstützen, dass sie sich regenerieren und die teils belastende Betreuung zu Hause meistern können. Das kann darin bestehen, einzukaufen oder etwas zu essen zu kochen, mit Familienmitgliedern mit Beeinträchtigung etwas zu unternehmen, etwa spazieren zu gehen, oder für sie da zu sein, wenn Angehörige einmal in ein Restaurant zum Abendessen oder ins Kino gehen. "Wir beschäftigen uns mit den Menschen, tauschen uns mit den Angehörigen aus", so Steiner. "Der ganze normale Alltag eben."

Dafür kann Steiner momentan auf 30 bis 40 Ehrenamtliche zurückgreifen. Viel zu wenige, um die Unterstützung sicherzustellen, die betroffene Familien wirklich bräuchten, so die Sozialpädagogin. Das bedeutet, dass Hilfe manchmal nur alle zwei Wochen sichergestellt werden kann, obwohl diese mehrmals pro Woche benötigt würde. Die Aufgabenteilung, dass nur Ehrenamtliche Familie zu Hause betreuen, kann so nicht strikt eingehalten werden. Dann müssen auch die fünf pädagogischen Teammitarbeiter der ROB einspringen. So sehr hat sich die ohnehin schon prekäre Lage im Umfeld sozialer Berufe infolge der Pandemie verschärft. Bei der ROB bekommen die Ehrenamtlichen zwar eine Aufwandsentschädigung. Als viele Angebote durch rechtliche Vorgaben teils unmöglich wurden, haben sich aber viele andere Tätigkeiten gesucht. "Vorher waren es 70 bis 80 Ehrenamtliche", so Steiner - also doppelt so viele.

Dank großen Engagements gelingt es in der ROB darüber hinaus, landkreisweit ein Programm mit vielen Freizeitaktivitäten zu organisieren. Dafür ist Sozialpädagogin Sonja Schulz hauptverantwortlich. Im angelaufenen vierten Quartal reichen die Angebote von Disco-Veranstaltungen und Stammtischtreffen über Kino- und Konzertbesuche bis zu Ausflügen in die Natur. Eine für mehrere Tage geplante Herbstfreizeit konnte nicht stattfinden, weil das Personal fehlte. An den Betreuungskosten müssen sich die Eltern unter Umständen finanziell beteiligen. Sachkosten für die Übernachtung kommen dazu. Laut Steiner zahlen die Kassen aber ab Pflegegrad 1 nur bis zu 125 Euro Entlastungbetrag pro Monat für einen Pflegebedürftigen. Erst ab Pflegegrad 2 fließt deutlich mehr Unterstützungsgeld an die Familien. Wer alles oder das meiste zahlen müsse, stoße schnell an finanzielle Belastungsgrenzen, so Steiner. Um auch solchen Familien helfen zu können, würde sie sich über mehr Spenden freuen.

Damit wird aber auch abseits finanzieller Engpässe deutlich, dass der Alltag mit Betroffenen nur gut gelingen kann, wenn ein breites Unterstützungsnetzwerk existiert. An Fachpersonal mangelt es allerdings. Trotz aller Widrigkeiten, auch im Umgang mit unterstützungsbedürftigen Menschen, hat Steiner aber eines gelernt. "Das sind Menschen wie ich und du. Die wollen genauso Spaß haben, ratschen, tanzen oder spielen wie alle anderen."

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