Landkreis:Auf dem Weg in den Pflegenotstand

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Was Demenz bedeutet, erfahren Besucher der Lesung im Awo-Zentrum. (Foto: Hartmut Pöstges)

Besuch im AWO-Zentrum in Wolfratshausen: Leiter Dieter Käufer fragt sich, ob seine Generation noch gut versorgt werden kann. Seine Antwort: "Eher nicht."

Von Ingrid Hügenell und Andreas Scheuerer, Wolfratshausen

Mit Sorgfalt führt Franziska Kiene den feuchten Schwamm über die Arme der Bewohnerin. Die Wäsche tut der alten Frau sichtbar gut, lässt sie aufatmen und entlockt ihr ein zaghaftes Lob: "Gut machen Sie das." Viel Zeit bleibe ihr nicht für die Bewohnerin, erklärt die 31-jährige Pflegefachkraft und windet den Waschschwamm aus: Zeit am Patienten beendet. Im nächsten Moment ist sie auch schon aus dem Zimmer verschwunden, Essensvorbereitungen.

Rein rechnerisch hat in dem Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt in Wolfratshausen jede Fachkraft 2,1 Bewohner zu betreuen. Dort leben momentan 68 an Demenz erkrankte Menschen. Praktisch bedeutet das, dass in einer Wohngruppe 22 bis 24 Bewohnern von drei Fachkräften betreut werden. Der Personalschlüssel wird vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen und der Regierung von Oberbayern festgelegt und richtet sich nach der Pflegebedürftigkeit der Bewohner.

Heimleiter Dieter Käufer sagt: "Wir erfüllen den Pflegeschlüssel, zum Teil übererfüllen wir das gesetzlich Vorgeschriebene sogar. Trotzdem hätte ich lieber mehr Leute." Das Problem: Wer soll das bezahlen? Denn der gegenwärtige Personalschlüssel ist der, nach dem die Einrichtungen Geld von der Pflegekasse bekommen. Stellen sie mehr Personal ein, würde der Eigenanteil der Bewohner steigen, und der liege gegenwärtig bei der AWO in Wolfratshausen schon bei etwa 2000 Euro im Monat. "Da ist für die meisten eine Schmerzgrenze erreicht", sagt Käufer.

So bleibt den Fachkräften auch in einem Seniorenheim, das kürzlich von der Zeitschrift Focus als eines der Top-Pflegeheime bundesweit ausgezeichnet wurde, nicht so viel Zeit für die Bewohner, wie es wünschenswert wäre. Das liegt auch daran, dass sich ein beträchtlicher Teil der Arbeit in den bürokratischen Bereich verschoben hat. Zehn Minuten pro Stunde verwenden die Fachkräfte darauf, penibel festzuhalten, wie es den Menschen tatsächlich geht: sowohl körperlich als auch psychosozial. Das müsse und solle reduziert werden, sagt Käufer. Hinzu kommen "Fortbildungen, die es früher so nicht gab", sagt Wohnbereichsleiterin Martina Scheibler, die seit 1999 in der Pflege tätig ist. "Die Arbeit wurde einfach gemacht."

Tatsächlich habe es die speziellen Fortbildungen zu "Expertenstandards" früher nicht gegeben, sagt Heimleiter Käufer. Nun lernten die Fachkräfte, wie man mit Schmerz umgeht, wie man Wundliegen, den Dekubitus, vermeidet. Fortbildungen gibt es auch zu Ernährung und Demenz. Daneben sieht Käufer einen wichtigen Paradigmenwechsel in der Pflege: "Heute steht der Mensch als Ganzes im Vordergrund und das, was er noch kann." Früher habe man mehr auf die Defizite geschaut, nun gehe es darum, die Ressourcen der Menschen möglichst zu erhalten.

Dieter Käufer ist Leiter des AWO-Seniorenzentrums. (Foto: Hartmut Pöstges)

Drei Vollzeit-Pflegefachkräfte für 22 Bewohner - bei dementen Bewohnern, die weglaufgefährdet sind, sei das einfach zu wenig, bemängeln Kiene und ihre Kollegen. Beim Mittagessen wird klar, wie der Personalmangel abgefedert wird: Ehrenamtliche und Angehörige helfen aus; sie führen die Bewohner aus ihren Zimmern zu den Mittagstischen. Essen anreichen dürfen nur Fachkräfte oder Angehörige. Denn gerade demente Menschenhaben fast immer Schluckprobleme, erklärt Käufer, der froh ist, dass manche Angehörigen gezielt zu den Essenszeiten ins Heim kommen. "Das ist eine tolle Unterstützung", sagt er - das Essen könne bei dementen Menschen sehr lange dauern. Auch die Ehrenamtlichen leisteten einen wichtigen Beitrag, wie Käufer erläutert. Sie lesen vor, begleiten Bewohner in den Garten, helfen bei Ausflügen, singen mit den Bewohnern. Pflegerische Aufgaben dürfen sie jedoch nicht übernehmen, auch kein Essen anreichen.

Immer mehr Menschen werden immer älter, und es stellt sich die Frage, wer sie versorgen soll. "Werden wir noch angemessen versorgt, wenn wir alt geworden sind?", fragt Käufer und antwortet: "Eher nicht." Bundesweit ist die Personallage in der Pflege prekär, und sie wird sich nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wohl weiter verschlechtern. Dazu kommt, dass nach dem neuen Pflegestärkungsgesetz auch geistig, körperlich und seelisch Behinderte Zugang haben sollen zu den Leistungen der Pflegekassen. "Die Fachöffentlichkeit fragt sich, woher dafür das Geld kommen soll", sagt Käufer.

Wer soll also künftige Generationen pflegen und wer soll das bezahlen? Die Bertelsmann-Stiftung setzt auf zwei Grundsätze: "Rehabilitation vor Pflege" und "ambulant vor stationär". Nicht nur müsse die Pflege durch Angehörige gestärkt werden, sondern auch das ehrenamtliche Engagement. 2012 hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erste Maßnahmen ergriffen, um mehr Menschen in Ausbildungen zu Pflegeberufe zu bringen. Zunächst sollten die Kapazitäten in Pflege-Einrichtungen und Schulen erhöht werden, dann der Pflegeberuf weiter entwickelt sowie die Arbeitsbedingungen attraktiver werden. Das zeigte zwar allererste Erfolge, doch auch im Jahr 2015 kamen im Durchschnitt auf 100 gemeldete offene Arbeitsstellen nur rund 31 Arbeitssuchende.

Könnte der Einsatz technischer Hilfsmittel oder gar von Pflegerobotern zur Lösung des Problems beitragen? Das AWO-Heim nimmt an einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Nutzen von Betten teil, die Patienten automatisch drehen und so dem Wundliegen vorbeugen sollen. Wohl eine schöne Sache, sagt Käufer. "Aber mit solchen Maßnahmen kann man keinen Personalmangel lösen." Auch mit Robotern eher nicht: Demente Menschen brauchen menschliche Zuwendung, die ein Roboter eben nicht geben kann.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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