Süddeutsche Zeitung

Kunst in Kochel am See:Der Mensch als Kopffüßler

Zum 85. Geburtstag von Horst Antes erklärt eine Ausstellung im Franz-Marc-Museum, warum sich die Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg so schwer mit einer realistischen Darstellung von Körpern getan hat

Von Petra Schneider, Kochel am See

Die aktuelle Ausstellung im Franz-Marc-Museum widmet sich einer besonderen Spezies: Dem Kopffüßler, einem Wesen mit großem Kopf, einer aus der Stirn sich bruchlos fortsetzenden Nase, fehlendem Rumpf und direkt am Kopf ansetzenden Beinen. Er ist eine Schöpfung des Künstlers Horst Antes, zu dessen 85. Geburtstag im Oktober das Franz-Marc-Museum 30 Gemälde und Collagen sowie zwei Skulpturen zeigt. Außerdem sind in den Obergeschossen neue Präsentationen aus der 2000 Werke umfassenden Sammlung des Museums zu sehen. Skizzen und Aquarelle zum "Eselsfries", Postkarten von Paul und Lily Klee an Franz Marc, zahlreiche Ölskizzen, die bei dessen Aufenthalten in Kochel in den Jahren 1905/06 entstanden sind. Kohlezeichnungen von Fritz Winter, Werke von Julius Bissier oder Willi Baumeister.

Mit Horst Antes legt die Ausstellung einen Schwerpunkt auf die 1960er Jahre und auf einen Künstler, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten "fast aus unserer Wahrnehmung verschwunden ist", wie Direktorin Cathrin Klingsöhr-Leroy erklärt. Die Geburt des Kopffüßlers fiel in eine Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche. Studentenrevolte in Paris, der Protest der Jugend gegen die Verdrängung der faschistischen Vergangenheit durch die Vätergeneration. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war der Mensch als Motiv in der Malerei verschwunden; Abstraktion und Informel waren die dominierenden Stilformen als Reaktion auf eine aus jeglicher Ordnung gefallenen Nachkriegszeit. "Abstraktion ist Diktatur", postulierte Georg Baselitz in den 1960er Jahren und reagierte, wie auch Gerhard Richter, mit figurativen Werken auf die kritisierte "Inhaltslosigkeit". Auch Horst Antes suchte nach neuen Möglichkeiten, um dem Menschlichen wieder Raum in der Malerei zu geben. Seine Antwort ist der Kopffüßler: Eine Kunstfigur, anti-individuell und reduziert auf Elemente wie Augen, Füße, Arme, Geschlechtsteile. Eine leibliche, geerdete Figur in den poppigen Farben der Sechzigerjahre. Mit dem Kopffüßler löste Antes eine kleine Revolution aus. Seine Figur machte ihn berühmt - und erntete Häme: Gnom, Groteskfigur, halsloses Ungeheuer, Humpelstilzchen, so lauteten die wenig schmeichelhaften Bezeichnungen.

Antes wurde 1936 in Heppenheim geboren, studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Er war Stipendiat in Florenz und Rom, wurde dreimal zur Teilnahme an der Documenta in Kassel eingeladen. 1966 erhielt er den Unesco-Preis für Malerei bei der Biennale in Venedig, 1991 den Großen Preis bei der Biennale in Sao Paulo. 1984 widmete ihm das Guggenheim-Museum in New York eine Einzelausstellung, 1993/94 das Haus der Kunst in München eine Retrospektive.

Antes lehrte an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe und konzipierte 2010 im Franz-Marc-Museum eine Ausstellung. Es sei "eine Hommage an anonyme Künstler" gewesen, sagt Klingsöhr-Leroy. Denn Antes sei selbst ein großer Sammler, etwa von Milchkannen Kimonos, Kachina-Puppen der Puebloindianer, welche die Entstehung des Kopffüßlers inspiriert haben dürften.

Eine der frühen Profilfiguren ist aus dem Jahr 1962, entstanden in Florenz. Eine archaische Frauenfigur in kräftigem Rot, schwere Brüste, Vulva, alles wirkt roh und unförmig; der Versuch, aus dem Farbnebel der Abstraktion eine Figur zu destillieren. Die Genese und Verdichtung zum Kopffüßler, die die Ausstellung deutlich macht, zeigt sich prototypisch an einer Tuschzeichnung von 1969: Gesichtskonturen im Profil, ein großes Auge im Zentrum, Brüste, Beine ohne Körper. Eine extrem reduzierte Figur, die in ihrem klassischen Profil an Picasso erinnere, erklärt Klingsöhr-Leroy. Auch im wiederkehren Motiv der Taube seien diese Anleihen erkennbar. Immer wieder setzt sich Antes, der in der Toskana lebt, mit der in der italienischen Frührenaissance entdeckten Zentralperspektive auseinander. Ausgesparte Ecken, Würfel und Kuben, die wie an die Oberfläche gemalt wirken und die Tiefe der Bilder nivellieren. Es ist eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Frage: Was kann die Malerei leisten und wie illusionistisch soll sie sein? Auch Antes selbst kommt in der sehenswerten Ausstellung zu Wort. "Eine Figur kann viele Arme haben, wenn es notwendig ist", ist in Zitaten zu lesen. "Einmal braucht eine Figur ein Auge, ein andermal mehr, eben soviel, dass sie sehen kann."

Im Werk "Figur mit blauem Arm" von 1964 lässt sich das gut erkennen: Aus einem blauen Fuß wächst schlangenartig ein Arm, der von einem gelben Arm-Fuß gehalten und von zwei übereinander angeordneten Augen beobachtet wird. Eine kecke, phallische Form weist über das Bild hinaus. Der Kopffüßler ist eine Figur, die sich aus sich selbst heraus entwickelt, in gleichermaßen monströser wie heiterer Körperlichkeit.

"Die Genese des Kopffüßlers". Horst Antes zum 85. Geburtstag. 17. Oktober 2021 bis 22. Mai 2022, Franz-Marc-Museum in Kochel am See (Mittenwalder Straße 50,), Dienstag bis Sonntag, 10-17 Uhr, von April an 10 bis 18 Uhr

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SZ vom 16.10.2021
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