Der Weg auf die Bühne hat normalerweise optisch nicht allzu viel zu bieten. Doch hier ist alles anders. Wie in einer Prozession schreiten die Sängerin Anna Veit und ihre sechs Mann starke Begleitung den Iffeldorfer Schlossanger hinab, Tuba, Horn, Trompeten und Posaune als Monstranzen. Das Publikum hat sich lässig, halb sitzend, halb liegend auf der sonnenbeschienenen Wiese verteilt und erwartet das erste Iffeldorfer Meisterkonzert nach langer Zeit der Musiklosigkeit. Was es bekommt, ist eine Stunde erlesener Chanson-Klänge im schönsten Konzertsaal der Welt.
Grüne Wiese im Vordergrund, spiegelnde Wasseroberflächen im Hintergrund; ein paar interessierte Kühe kreuzen das Blickfeld. In seiner Idyllik erinnert das an barocke Lustfahrtsmusiken, die sich eine exklusive Zuhörerschaft gelegentlich im Freien gönnte - bis Anna Veit anfängt zu singen. Die schauspielende Sängerin verspricht "schreckliche, grausliche Lieder", damit hinterher alle sagen können: Verglichen damit geht's uns ja eigentlich gar nicht so schlecht. Und schrecklich und grauslich sind die Lieder dann auch. Aber mit weicher, planvoll angerauter Stimme vorgetragen und mit anschmiegsamer Begleitung durch das Ensemble, fünf Blechbläser und ein Schlagwerker, alle rekrutiert aus dem Bestand der Münchner Philharmoniker.
Nach einer schwungvollen Polka-Petitesse, mit der die Instrumentalisten ihre mühelose Virtuosität zeigen können, legt Anna Veit los, lädt mit Georg Kreisler zu einem Tigerfest in ihrem Garten ein und singt genüsslich: "Sie werden euch verspeisen, zuerst alle Frauen, danach alle Weisen und danach alle Schlauen." Kreisler, den unermüdlichen Entlarver der Scheinmoral im Kleinbürgerglück, interpretiert Anna Veit temperamentvoll differenzierend. Sie pirouettiert auf der grünen Bühne, erweckt mit vollem Körpereinsatz und theaterhafter Mimik den fünfzig Jahre alten Chanson zum Leben. Dabei könnte er auch genau für diesen Anlass geschrieben sein. Zwar kommen im Ostersee-Panorama weniger Raubkatzen als Weiderinder vor, doch am Ende des Liedes singt die Sängerin vom Glück, in der Ruhe ihres Gartens am Wein zu nippen - das tut auch der ein oder andere der bezauberten Zuhörer.
Überhaupt hat "Goldmund" ein Gespür für Themen, die aktuell sind. Was Peter Igelhoff, der Schlager wie am Fließband produzierte, in den Dreißigerjahren dichtete, hat aktuell traurige Relevanz: "Der Onkel Doktor hat gesagt, ich darf nicht küssen." Was einmal ein kleiner Song war, den auch die Comedian Harmonists interpretiert haben als niedrigschwellige Präventiv-Maßnahme gegen Liebesschmerz, klingt heute wie ein satirisches Plädoyer für die Einhaltung von Abstandsgeboten. Die augenzwinkernde Darbietung von Anna Veit und ihren sechs Philharmonikern tut das Übrige.
Doch bleibt selbst bei den etwas robusteren Chanson-Satiren nie der Eindruck, es handle sich um politisch aufgeladene Kunst, auch nicht bei der detailliert ausgeführten Sado-Maso-Phantasie mit einem Mediziner "Ganz in Weiß". Veits Leichtigkeit und ihr Charme machen die präsentierten Lieder zur dringend benötigten, musikalisch wertvollen Unterhaltung, leger, aber nicht gehaltlos. Das Publikum dankt es mit reichlichem Applaus nach jeder Nummer.
In welcher Tradition sich Anna Veit sehen könnte, machen vielleicht zwei Lieder der legendären Schwabinger Gisela deutlich, mit denen der Abend nach Klassikern des sarkastisch beißenden Chansons einen ruhigeren Ton verliehen bekommt. Zu der sparsamen Tuba-Begleitung durch Ricardo Carvalhoso singt Veit die frivole Geschichte "Klein Marlenchens" und ihren erotischen Entdeckungen auf der Straße nach Dijon. Anna Veits hauchender Gesang und Carvalhosos nicht weniger sensible Grundierung (eine Tuba kann das) harmonieren bestens und lassen das Publikum nostalgisch werden, was sich in "Nowak", dem Chanson vom Unglück des Brav-Seins, fortsetzt.
Dass zur Atmosphäre des Abends neben Anna Veits schön timbrierter Stimme und der pastoralen Szenerie auch die hervorragend besetzte Instrumentalisten-Combo beiträgt, wird in den immer wieder eingestreuten Soli klar. Sebastian Förschl füllt die Luft mit zarten, unwirklichen Vibraphon-Klängen, Quirin Willert improvisiert auf der Posaune, Bernhard Peschl brilliert an der Trompete. Diese fein abgestimmten Blechbläserklänge würden sich in der Landschaft verlieren, hätte der Iffeldorfer Schlossanger nicht eine überraschend dankbare Akustik, in der Topografie einem Amphitheater nicht unähnlich.
Mit einer kurzen Zugabe, einem zärtlichen Lied Herman van Veens, dem gesungenen Brief eines Vaters an seine Tochter, endet das Programm an diesem Abend. Mehr als sechzig Minuten darf es noch nicht dauern, was auch das hartnäckige Klatschen des Publikums nicht ändern kann. Schrecklich und grauslich waren die Lieder also manchmal schon, doch wie angenehm zu hören - danach geht es einem tatsächlich besser.