Süddeutsche Zeitung

Konzertkritik:Jung, mutig und technisch versiert

Die Musiker von "Quartessenz" bringen das Publikum in Gelting mit Dvořák und Tango zum Jubeln

Von Paul Schäufele, Geretsried

Diese Bretter, die die Welt bedeuten, haben schon viel gesehen. Kratzer, Macken, Dellen - die Theaterbühne der Kulturbühne "Hinterhalt" in Gelting ist die beste Dokumentation der wilden, freien Theaterkunst, die hier seit dreißig Jahren gemacht wird. Dreißig Jahre, und trotzdem werden auch hier noch Premieren gefeiert. Die vier jungen Musizierenden von Quartessenz haben am Freitag mit einem Programm zwischen Beethoven und Carl Orff, Antonín Dvořák und Stevie Wonder das Publikum zum Jubeln gebracht.

"Quartetto serioso" ist der Alternativname des Streichquartetts Opus 95 in f-Moll, das Ludwig van Beethoven 1814 fertiggestellt hat. So seriös wirkt das Werk aber nicht, wenn sich Jeremias Pestalozzi (Violine I), Martha Mitreuter (Violine II), Laura Primavesi (Viola) und Alina Andersohn (Cello) dem Stück widmen, obwohl sie eine ganz ernsthafte Kunst pflegen. Eher wird im Spiel der vier viel vom Sturm und Drang hörbar, der noch in der Partitur steckt. Mit jugendlichem Mut und feurigem Temperament erkunden sie das vielschichtige Stück, mit dem Beethoven den Übergang zu seinen späten Quartetten vorbereitete. Schroffe Akzente und eine gar nicht mehr klassische Behandlung der Themen kennzeichnen dieses Quartett, von jeher die experimentierfreudigste Gattung der Kammermusik. Angesichts des Versuchscharakters, den jedes der Streichquartette Beethovens hat, ist nur zu fragen: Wo, wenn nicht hier? Die Geltinger Kulturbühne "Hinterhalt" ist die Anlaufstelle für kreative Erkundungen aller Art, sei es im Sprechtheater, im Kabarett oder in intim besetzter klassischer Musik. Nur interessant muss es sein. Und wer, wenn nicht sie? Die vier Musizierenden von Quartessenz sind geradezu unverschämt jung, dabei preisgekrönt und teils bereits Jungstudierende an der Münchner Musikhochschule. Klar, dass damit nicht nur bemerkenswerte technische Reife auf die Bühne kommt, sondern auch Neugier, die Klassiker des Repertoires zu durchleuchten und Lust, dieses Repertoire auszuweiten.

So erklingt vor dem Klassiker der Klassiker, Dvořáks "Amerikanischem Quartett" Opus 96, ein so gut wie nie gehörtes Stück von Carl Orff. Der 1914 entstandene Quartettsatz h-Moll zeigt nicht den Orff des rhythmischen Chorgesangs etwa der "Carmina Burana". Das möchte man jedenfalls meinen, wenn man den expressiv schimmernd dargebotenen, langsamen Einleitungsteil des Satzes hört. Das hat viel von Arnold Schönbergs "Verklärter Nacht", bis zu dem synkopierten Kontrastteil, den Quartessenz mit Präzision und Transparenz präsentieren.

Dabei merkt man, dass sie nicht erst seit gestern miteinander Musik machen. Hervorgegangen ist das hochbegabte Quartett aus dem gemeinsamen Musizieren im Puchheimer Jugendkammerorchester, wo Primarius Pestalozzi auch als Konzertmeister wirkt. Seit fünf Jahren spielen sie nun in Quartettbesetzung und waren so auch schon beim Bundeswettbewerb "Jugend musiziert" erfolgreich. Zu einem großen Teil mag das an der vorbildlichen musikalischen Kommunikation liegen. Die quasi reibungslose Koordination der anspruchsvollen Werke erreichen sie durch Blickkontakt, hin und wieder auch durch Lächeln, was das Quartett noch sympathischer macht, als es ohnehin schon ist. Dafür steht auch der Lärmpegel, der durch das jubelnde Publikum entsteht. Das gilt insbesondere für das Dvořák-Quartett, dessen überquellenden Melodienreichtum die vier schwelgerisch schön musizieren. Der zweite Satz des in Spillville, Iowa, entstandenen Quartetts gibt Gelegenheit, melancholische Töne anzustimmen. Den wiegenden Lento-Satz füllen Pestalozzi, Mitreuther, Primavesi und Andersohn mit süßen Moll-Kantilenen, ehe ein turbulentes Scherzo und ein schwungvolles Finale das Publikum zu weiteren Freudenausbrüchen animieren.

Am meisten Geklatsche, Getrommel und Gestampfe erntet das Quartett aber vermutlich nach dem weniger klassischen Teil des Programms, einer Auswahl aus Quartett-Bearbeitungen von Film- und Pop-Musik, aber auch Tango und Schuhplattler, womit Quartessenz seine Vielseitigkeit virtuos unter Beweis stellt. Überhaupt, lauter Mehrfachbegabungen: Jeremias Pestalozzi hat schon den ganzen Abend mit trockenem Humor einen glänzenden Conférencier gegeben, der sachkundig durchs Programm führt, da legt Alina Andersohn Cello und Bogen zur Seite und bietet eine stilechte, berückende Performance von George Gershwins "Summertime". Den Rest des Abends bestreiten die vier dann wieder rein instrumental, etwa mit Irving Berlins Jazz-Standards "Puttin' on the Ritz", elegant und mit Verve gespielt, oder mit Astor Piazzollas Zugaben-Klassiker "Libertango", bei dem es ihnen sichtlich Freude macht, auch einmal die Saiten kratzen zu dürfen.

Dabei entwickelt sich eine Spielfreude, die sich auch auf die Zuhörerinnen und Zuhörer überträgt. Allein, irgendwann muss Schluss sein, so schade es auch ist. Aber wer möchte, kann sich ja online noch einmal das Konzert anhören. Das gesamte Programm wurde live gestreamt und professionell aufgenommen: Hundert Minuten beste Streichquartett-Musik, jung und mutig, unterhaltsam und vielfältig.

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SZ vom 16.08.2021
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