Süddeutsche Zeitung

Konzertkritik:Ein musikalisches Naturereignis

Der eigenwillige Solist Gilles Apap verzaubert beim Auftritt in der Wolfratshauser Loisachhalle die Neue Philharmonie - und das Publikum

Von Sabine Näher, Wolfratshausen

Wann kann man in der Loisachhalle schon mal einen veritablen Youtube-Star bewundern? Am Donnerstag bot sich die Gelegenheit, noch dazu in einem Klassikkonzert. Denn die Neue Philharmonie München, das international besetzte junge Orchester der Ickinger Musikwerkstatt, hatte sich als Solisten den Geiger Gilles Apap eingeladen. Dieser macht seit geraumer Zeit Furore im Netz, insbesondere mit seinen ausgeflippten Mozart-Kadenzen. Und wohl nicht zufällig stand in der Loisachhalle Mozarts Violinkonzert KV 219 auf dem Programm.

Wer den Namen noch nie gehört hatte, mag sich über das legere Auftreten des Solisten gewundert haben. Aufhorchen musste aber jeder, als nach einer sehr akzentuierten Orchestereinleitung vor dem Einsatz der Geige eine Generalpause stand - wie ein großes, dickes Ausrufezeichen - und Apap dann mit einem völlig reduzierten Tempo einstieg und dem Stück einen gänzlich anderen Charakter verlieh. Dass hier eine sehr persönliche Sicht auf Mozart dargeboten wurde, die mit überkommenen Hörgewohnheiten brach, war nun klar. Gemeinsam fand man dann zum ursprünglichen Allegro-Charakter zurück, wobei der Geigenton weicher blieb, fast verspielt, im Gegensatz zum dezidierteren Orchesterklang. Der junge Dirigent Yoel Gamzou leitete die Musiker mit vollem Einsatz seines großen, schlanken, biegsamen Körpers. Erstaunen dann bei der Kadenz am Ende des ersten Satzes: Die kam fast beiläufig, nur wenig elaboriert. Da hätte man vom Kadenzen-Künstler anderes erwartet. Das folgende Adagio hätte im Orchester ein wenig zarter, luftiger sein können. Der Solist machte dann vor, wie das geht: Der Geigenklang entschwebte gleichsam. Vor dem dritten Satz wendete sich der Dirigent ans Publikum. Die Kadenzen habe, so erläuterte Gamzou, ursprünglich jeder Solist selber improvisiert; erst später habe man die Kadenzen berühmter Vorgänger übernommen. Apap werde Mozart durch seine Augen gesehen näher bringen. Denn nur durch Interpretation könne die Musik zum wahren Leben erweckt werden. Was folgte, war ein Naturereignis - oder eine magische Vorstellung? Jedenfalls war es keine Kadenz zu KV 219, sondern ein völlig neues, berückendes Stück, das die jungen Musiker im Orchester ebenso verzauberte wie das Publikum. "Hommage á Mozart" oder "Reflexionen zu KV 219" könnte man es nennen. Apap spielte mit Motiven des Werkes, ließ sie die Epochen wie die Geografie durchwandern und Mozart schließlich im Nahen Osten andocken. Jubelnden Beifall belohnte Apap mit einem weiteren Zuckerstückchen: Einer wilden Polka, die das Orchester wie das Publikum involvierte. Eine Ausnahmeerscheinung - ein Ausnahmekonzertabend!

Als nach der Pause Mahlers fünfte Sinfonie auf dem Programm stand, nahm Apap tatsächlich im Orchester Platz. Auch das pflegen renommierte Solisten niemals zu tun. Die jungen Orchestermusiker werden die Geste zu schätzen gewusst haben. Einen Riesenapparat verlangt Mahler. Acht Kontrabässe verdeutlichten das Ausmaß. Die speziellen Hocker für deren Spieler reichten nicht aus; einige saßen auf vier übereinander gestapelten Stühlen. Eingeleitet wurde das Werk von einem Trompetensolo. Das brauchte allen Mut und gute Nerven. Die hatten die Orchestermusiker offensichtlich, denn es kam sauber und souverän und entfesselte ein gewaltiges Tutti. Tiefe Bläser dominierten; darüber erhoben die Streicher einen anrührenden Trauergesang. Der "Trauermarsch" entfaltete eine starke Atmosphäre, auch in der gespenstisch-fahlen Mittelpassage. Aufgewühlt folgte derzweite Satz, mit gleichsam markerschütternden Klängen. Ein abrupter Wechsel zu einer elegischen Klage der tiefen Streicher, darauf ein wilder Tutti-Aufschrei, der zum Klageton zurückführte. Der dritte Satz tat sich erst schwer, eine spezielle Atmosphäre zu entfalten. Spannend wurde es mit den Soli-Pizzicati, die eine dichte Stimmung erzeugten, die sich fortsetzte. Nächster Höhepunkt: Berückende Soli von Horn und Klarinette, die den ekstatischen Schluss einleiteten. Der vierte Satz braucht absolute Ruhe. Gamzou warf einen Blick in den Saal, weil es raschelte. Dann hob die Musik an: leise flirrend, zauberhaft, traumverloren. Muntere Bläsersoli leiteten über zum heiteren Schlusssatz, der mitreißende Dynamik entwickelte.

Beim tobenden Applaus lief Gamzou ins Orchester und zog die jeweiligen Solisten mit sich nach vorne, damit sie dort ihren eigenen Applaus genießen konnten. Der einmal mehr ungewöhnliche Beschluss eines besonderen Konzertabends.

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Quelle:
SZ vom 10.03.2018
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