Der Vater war Stellmacher im Dorf Rohrau. Die Mutter arbeitete in einer gräflichen Küche, bevor sie ihren Mann kennenlernte. Beide konnten keine Noten lesen. Und doch gelang es zweien ihrer Kinder, als Musiker nicht nur Karriere zu machen, sondern ihre Spuren auf dem Weg der Musikgeschichte zu hinterlassen: Joseph und Michael Haydn. Das Konzert des Vokal-Ensembles Icking mit dem Ensemble Nymphenburg beweist durch musikalische Leidenschaft und Neugier auch für den weniger berühmten Haydn, welche Schätze des Repertoires noch zu heben sind – wenn sie so kundig aufgeführt werden wie in der Ickinger Heilig-Kreuz-Kirche.
Mit strahlendem Chorklang begrüßt das Vokal-Ensemble das Publikum, das sich zahlreich in der Kirche einfindet. „Te Deum“ singt der Ickinger Chor und demonstriert schon in den ersten Takten die Klangqualität, an der Chorleiter Peter Marino auch für dieses Konzert gefeilt hat. Es ist ein transparenter, heller Chorklang, der dank Marinos umsichtiger Gestaltung ausbalanciert und rund wirkt, obwohl weibliche Stimmen überrepräsentiert sind. Vor allem aber ist der Chor flexibel, lässt sich durch das energisch intonierte Dreiklangs-Motiv des Orchesters beleben und erreicht beim „Salvum fac populum tuum“ geradezu tänzerische Beschwingtheit.
Eigenständig und originell
Das Eingangswerk zeigt aber nicht nur die Qualitäten des Ensembles. Es zeigt auch, dass die Kompositionen des Haydn-Bruders Michael eigenständige, originelle Beiträge zur Musik im Zeitalter der Klassik sind. Für das „Te Deum“ gilt das nicht weniger als für die vier A-cappella-Sätze, in denen sich der Chor auf sich allein gestellt beweisen muss. Unter Marinos klaren Gesten verwandelt er zumal die Motette „Jesu Redemptor“ in eine Feier des Wohlklangs. Dabei agiert der Chor ganz themenbezogen. Im Chorsatz „Christus factus est“ etwa hält sich das Vokal-Ensemble bei den beißenden Vorhaltsnoten, die für die Schmerzen des Christus am Kreuz stehen, nicht zurück – um sie mit versierter Phrasierungskunst aufzulösen.
Der Chorsatz weist voraus auf das Hauptwerk des Abends. Davor allerdings gibt man auch dem Orchester Gelegenheit, sich selbstständig zu zeigen. Das Ensemble Nymphenburg setzt sich je nach Bedarf aus einer Gruppe von Orchestermusikerinnen und -musikern des Münchner Raums zusammen, hat also keine feststehende Besetzung. Für Joseph Haydns Symphonie Nummer 101 tritt es in mittlerer Größe auf und erweist sich als Glücksfall. Peter Marino schweißt die Musizierenden mit einer Bewegung zusammen für die atmosphärisch dichte Einleitung, die sich wie Nebel verbreitet. Aus den d-Moll-Untiefen springt sodann das betont leichtfüßige Hauptthema, fein artikuliert mit vitalem, sprechendem Staccato.
Verschränkung von Naivität und Kunstfertigkeit
„Die Uhr“ lautet der Beiname der Symphonie, wegen der gleichmäßig tickenden Begleitung im langsamen Satz, zu der sich ein preziös verspieltes Marsch-Thema gesellt. Marino lässt den ganzen Teil trocken, schlicht spielen, wodurch der Moll-Einbruch in der Mitte umso ausdrucksvoller wirkt. Die Reprise des Uhr-Themas steigert die anfangs eingebrachte Heiterkeit und erreicht damit eine Verschränkung von Naivität und Kunstfertigkeit, die man nur bei (Joseph) Haydn findet. So auch im Menuett, das in Icking zum echten Tanzsatz wird. Mit Schwung führt Marino durch die Rahmenteile, gibt dem Trio mit seinen Dudelsack-Quinten eine nie übertrieben grobe, aber robuste Prägung. Sprudelndes Dur und donnerndes Moll kontrastieren schließlich im Finale, in dem Marino die Reaktionsschnelligkeit des Orchesters in den polyphonen Passagen testet. Das Orchester besteht mit Bravour und erhält viel Applaus.
Das Hauptwerk des Nachmittags steuert indes der jüngere Haydn bei. Michael Haydns Requiem-Vertonung in c-Moll, geschrieben nach dem Tod seines Salzburger Dienstherren, Erzbischof Sigismund III., Graf von Schrattenbach, ist eine der berührendsten Versionen der Totenmesse nicht nur des achtzehnten Jahrhunderts. Der herb düstere Eingangschor klingt eigentümlich vertraut, denn es gilt als gesichert, dass Mozart sich für sein zwanzig Jahre später entstandenes Requiem von der Komposition seines Freundes inspirieren ließ. Dennoch spricht aus Haydns Werk eine eigene kompositorische Stimme, etwa wenn sich über bewegtem Violin-Part lange, hier klangschön aufgeführte Chorlinien zum Text „Te decet hymnus“ spannen.
Freilich brennt Michael Haydns „Dies irae“ nicht mit demselben Furor wie etwa der Satz Mozarts. Aber das Orchester akzentuiert die Triller energisch, wozu man sich immerhin züngelnde Höllenflammen vorstellen könnte. Zudem ist das Solisten-Quartett ein Glücksgriff. Beate Kiechles substantieller, nervös vibrierender Sopran setzt die Ängste der Seele im Jüngsten Gericht bewegend um. Einen warmen, nicht minder expressiven Ton bringt Katharina Guglhör (Alt) ein und rührt mit der ängstlich einfühlsam vorgebrachten Phrase „Quid sum miser tunc dicturus?“ (Was werd ich Armer dann sagen?). Mit schönem, ungewöhnlich dunkel timbrierten Tenor bittet auch Manuel Ried um Vergebung und Nachsicht, wird darin sekundiert von Alexander Rampp und dessen beweglichem Bariton.
Nach den dramatischen Ausbrüchen des „Lacrimosa“, dem Orchester-Brausen des „Domine Jesu“, einer engagiert präzise aufgeführten Chorfuge „Quam olim Abrahae“ kommt dieses mit hoher motorischer Energie ausgestattete Requiem zum Stillstand: „Quia pius es“ (Denn du bist gütig) singt der Chor, so strahlend wie er das Konzert begonnen hat. Großer Beifall.