Süddeutsche Zeitung

Im Kurhaus Bad Tölz:Zwei mal vier ist eins

Die vierte "quartettissimo"-Saison beginnt mit einem mitreißenden Konzert des Cuarteto Quiroga und des Cosmos Quartet, das kurz vergessen lässt, dass der Spielbetrieb schon wieder heruntergefahren werden muss

Von Paul Schäufele

Was Musik kann (unter anderem): erheitern, unterhalten, erheben, trösten. Aber, und das war bislang nicht jedem bekannt, Musik kann auch momentweise die Axiome der Mathematik aus den Angeln heben - zwei mal vier ist gleich eins. Jedenfalls ist das der Eindruck beim Eröffnungskonzert des inzwischen vierten "quartettissimo"-Zyklus in Bad Tölz. Am Ende des Abends im Kurhaus spielen das Cuarteto Quiroga aus Madrid und das Cosmos Quartet aus Barcelona Musik für acht Streicher, als handelte es sich nicht um ein für einen Abend zusammengestelltes Projekt-Ensemble, sondern um ein zusammengewachsenes Riesen-Instrument.

Schon davor kommt mit Franz Schuberts C-Dur-Streichquintett einer der Klassiker der Gattung für mehr als vier Streicher zu seinem Recht. Vor der Beschreibung dieses relativ späten Opus haben schon die Größten kapituliert. Zu rätselhaft seine ausgedehnte Form und Schuberts ganz eigenes Talent, das Zeitgefühl seines Publikums aufzulösen. Der Zugang, den die Tölzer Kombination gewählt hat, enttäuscht nicht, auch wenn den fünf Musikerinnen und Musikern weniger an dem Entwurf romantischer Weite gelegen ist als an Raffung und Zusammenfassung.

Dem entspricht auch die Interpretation als genuin kammermusikalisches Werk. Jede Stimme soll zu jedem Zeitpunkt hörbar sein und dabei den enorm ausdifferenzierten Satz widerspiegeln. Dazu passt es, die strömenden Melodielinien nicht übertrieben gesanglich zu zeichnen. Zumal im zweiten Satz wird das hörbar. Die E-Dur-Oase wird nicht zum Lied verkleinert, sondern als große, instrumental schimmernde Fläche präsentiert, bis zu dem unheimlichen Einbruch der verzweifelten f-Moll-Passage, die nur an manchen Stellen etwas mehr zupackende Akzente verdient hätte. Doch im Kontext dieser Interpretation ist alles stimmig. Dem Quintett geht es gerade nicht darum, das Publikum durch Ausstellen der Extreme zu fesseln, sondern (echt romantisch) es durch zurückhaltenderes, nachdenkliches Spiel zum Träumen zu bringen.

Ein anderes Stück und fast ein anderes Ensemble. Während Schubert echt kammermusikalisch gedacht hat, suchte Johannes Brahms in seinem Streichsextett Opus 18 durchaus die Nähe zur Symphonie. Dafür sorgt auch das verdoppelte Cello. Insgesamt klingt hier alles tiefer, sonorer, was die sechs Musizierenden auskosten, ohne den musikalischen Satz zu belasten. Der Brahms, der hier zu hören ist, hatte noch keinen Bart, das Sextett ist ein Beweis jugendlicher Leidenschaft, die das spanische Ensemble mit Schwung nachvollzieht. Doch genauso souverän, wie Brahms in dem (relativ) frühen Werk die Stimmen arrangiert, ist die Klangregie der Gruppe. Wenn im Kopfsatz nach dem warm ausgesungenen Hauptthema das zweite Thema, eine zarte A-Dur-Bewegung, erscheint, hellt das den ganzen Raum auf. Dunkel wird es erst im zweiten Satz, einem kuriosen Variationensatz in Barock-Atmosphäre, dem Brahms gleichwohl musikantisches Temperament beigibt. Die Quiroga-Cosmos-Kombination trifft den Ton genau, es ist, als ob Corelli einen ungarischen Tanz hinlegt.

In puncto jugendlicher Virtuosität ungeschlagen bleibt aber das Werk, zu dem endlich beide Quartette in voller Größe zusammenkommen. Der 16-jährige Felix Mendelssohn Bartholdy hat mit seinem Oktett ein unsterbliches Meisterwerk geschaffen, das viel zu selten gespielt wird, dessen wirbelnder Elan aber noch jeden mitgerissen hat. Sicher auch die Hörer der legendären Aufnahme, die der Jahrhundertgeiger Jascha Heifetz 1961 gemacht hat. Aber Heifetz' Kunst, so unantastbar sie ist, war die eines Solisten, der mit sieben Freunden spielt. Die Interpretation, die Cuarteto Quiroga und Cosmos Quartet anbieten, zeigt das Opus 20 als höchst demokratische Diskussion in acht quasi gleichberechtigten Stimmen. So ergeben sich Dialoge über die gesamte Breite der Bühne, etwa, wenn sich im langsamen zweiten Satz das Thema aus den tiefen in die hohen Streicher emporschraubt. Das erfordert genaues Aufeinanderhören und die Fähigkeit, schnell zu reagieren. Und schnell reagieren können hier alle, wie der fabelhaft dahinsausende dritte Satz zeigt, ein trippelndes Mendelssohn-Scherzo. Das Finale, ein vor Freude übersprudelndes Fugato, steht dem in nichts nach. Jubel für die acht Musikerinnen und Musiker.

Diese bedanken sich ihrerseits mit barockem Klangzauber, einem Stück von François Couperin, "Les Barricades Mystérieuses", in dem die musikalische Bewegung immer wieder ausgebremst wird, um dann erneut an Fahrt aufzunehmen. Vielleicht war der Zusammenhang nicht gewollt, aber er drängt sich doch auf. Nach einem so sorgfältig durchgeführten, glänzenden Konzert ist es natürlich doppelt schlimm, dass diesen Veranstaltungen für eine gewisse Zeit wieder Barrikaden vorgelegt werden. Mysteriös ist das zwar weniger als schlicht schockierend, aber die Hoffnung bleibt, dass auch diese Hindernisse einmal mehr überwunden werden.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2021
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