Unterstützung im AlterEin Notfallplan für die Pflege

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Die Anzahl der Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, wird auch im Landkreis bis 2040 steigen. Das Modell der Quartierspflege durch Nachbarn könnte die Fachpflegedienste entlasten.
Die Anzahl der Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, wird auch im Landkreis bis 2040 steigen. Das Modell der Quartierspflege durch Nachbarn könnte die Fachpflegedienste entlasten. (Foto: IMAGO/Uwe Umstätter/IMAGO/Westend61)

Mit dem neuen Projekt Quartierspflege will der Landkreis Nachbarn aktivieren, um hilfebedürftige Senioren zu unterstützen. Das soll Fachpflegedienste entlasten. Münsing will sich beteiligen, andere Gemeinden wie Lenggries halten die Idee für unrealistisch.

Von Benjamin Engel und Petra Schneider, Bad Tölz-Wolfratshausen

Was Christiane Bäumler für die Pflegeversorgung hilfsbedürftiger Menschen im Landkreis prognostiziert, klingt ernst. Laut der Fachbereichsleiterin für Senioren und Teilhabe im Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen wird der Anteil der mehr als 80 Jahre alten Einwohner bis 2040 von 7,5 auf 9,1 Prozent steigen. Das vergrößert den Kreis derjenigen, die auf Pflege angewiesen sein werden. Gleichzeitig nimmt die Zahl der 20- bis 59-Jährigen und damit potenziell Erwerbstätigen von 50,7 (Stand 2023) auf 45,9 Prozent ab. „Das heißt, wir haben mehr Menschen, die Unterstützung brauchen und weniger, die das leisten können“, sagt Bäumler in der Sitzung des Münsinger Gemeinderats am Dienstagabend.

In dieser Lage soll das Konzept der Quartierspflege im Landkreis etwas Abhilfe schaffen - und auch die Pflegedienste in ihrer Tätigkeit entlasten. Dahinter steckt die Idee, ein Netzwerk aus Nachbarn aufzubauen, die hilfsbedürftige Menschen mit Pflegegraden von zwei bis fünf in der Grundversorgung unterstützen können. Das heißt etwa beim Frühstück, beim Einkaufen, beim Anziehen, beim Waschen. „Es soll ein Dienst sein, der ergänzend zu den Pflegediensten ist“, sagte Bäumler. „Wichtig ist, dass wir nicht von einem Ehrenamt sprechen, sondern von bezahlter Arbeit.“

Eine Gemeinde müsste in der Aufbauphase jährlich um die 20000 Euro zahlen

Das Projekt soll sich ihrer Darstellung nach längerfristig mittels der Pflegekassen refinanzieren. Während der Aufbauphase der ersten vier bis fünf Jahre muss jede Kommune pro Jahr mit etwa 20 000 Euro Kosten rechnen. Der Münsinger Gemeinderat stellte am Dienstag einstimmig in Aussicht, sich daran zu beteiligen. Über die Förderrichtlinie Gute Pflege sollen Unterstützungsgelder des Freistaats generiert werden.

Das neue Konzept versteht Fachbereichsleiterin Christiane Bäumler vom Tölzer Landratsamt als einen Notfallplan.
Das neue Konzept versteht Fachbereichsleiterin Christiane Bäumler vom Tölzer Landratsamt als einen Notfallplan. (Foto: privat7oh)

Laut Bäumler wäre das Projekt im Landkreis finanziell zu stemmen, wenn mindestens vier Kommunen mitmachen würden. Stand Anfang April hat dies Bäumler zufolge neben Münsing auch die Gemeinde Eurasburg in Aussicht gestellt. Icking hat es ebenso wie Lenggries bis dato abgelehnt, sich zu beteiligen.

Angedacht ist nach Bäumlers Darstellung, sich strukturell an den Landkreis Landsberg am Lech anzuschließen, der begonnen hat, das Projekt umzusetzen. Involviert ist der Verein „Gemeinsinn stärken“, der die Idee der Quartierspflege und ein digitales Dokumentationssystem mit einer Schnittstelle zu den Pflegediensten entwickelt hat.

„Im Landkreis kommen die ambulanten Pflegedienste an Kapazitätsgrenzen“, sagt Bäumler

„Im Landkreis kommen die ambulanten Pflegedienste an Kapazitätsgrenzen“, sagt Bäumler. Derzeit existierten 22 davon - einer weniger, als das seniorenpolitische Gesamtkonzept des Landkreises vorsehe. „Was mir am meisten Sorgen macht, ist der Mangel an Pflegekräften.“ Bäumler verwies darauf, dass bereits auf Nachfrage im Jahr 2022 davon die Rede gewesen sei, dass 106 Stellen nicht besetzt werden konnten. Für die Versorgungssicherheit sei das Konzept der Quartierspflege ein „Notfallplan“.

Angesprochen werden sollen beispielsweise erziehende Mütter und Väter, Schüler und Studenten, Rentner oder ausgeschiedene Pflegekräfte aus der Nachbarschaft hilfsbedürftiger Senioren - je nach Zeit, die sie erübrigen können. Im Idealfall gebe es damit genügend Ruhe, um für einen Ratsch länger bleiben zu können, so Bäumler. Das könne der Vorteil gegenüber einem Pflegedienst-Mitarbeiter sein, der auf längerer Rundtour unter Zeitdruck stehe, zum nächsten Patienten zu kommen.

Ob sich das Projekt allerdings realisieren und finanzieren lässt, sah der Lenggrieser Gemeinderat kritisch. Das Gremium stimmte klar dagegen, sich daran zu beteiligen. „Wir müssten ein Modell mit Geld füttern, von dem es bisher noch keine Referenzen gibt“, sagt Zweiter Bürgermeister Franz Schöttl (CSU). Die Quartier-Größe sei für 1500 Menschen definiert. Für jeden Betreuungsbedürftigen sollten drei bis sechs Freiwillige nötig sein. Damit müssten in Lenggries 2000 Helfer gefunden werden.

Gut 21 Millionen Euro hat Lenggries in das neue Pflegeheim investiert, das im Juli bezugsfertig ist...
Gut 21 Millionen Euro hat Lenggries in das neue Pflegeheim investiert, das im Juli bezugsfertig ist... (Foto: Manfred Neubauer/Manfred Neubauer)
... und 90 Plätze bietet. Was die häusliche Versorgung angeht, hält die Gemeinde das Modell Quartierspflege für unrealistisch.
... und 90 Plätze bietet. Was die häusliche Versorgung angeht, hält die Gemeinde das Modell Quartierspflege für unrealistisch. (Foto: Manfred Neubauer)

Nach Ansicht von Verwaltung und Gemeinderat sei dies unrealistisch. Zum Vergleich, so Schöttl: Die Feuerwehr habe als größte Freiwilligenorganisation der Gemeinde 450 Aktive. Außerdem sollten Quartierspfleger auch beim Toilettengang oder Duschen unterstützen. Helfer aus der Nachbarschaft würden Zugang zu „intimen Bereichen“ bekommen, „und das möchte auch nicht jeder“, sagt der Zweite Bürgermeister. Zudem könne die bezahlte Tätigkeit womöglich eine „Anspruchshaltung“ der Hilfebedürftigen schüren.

„Die Idee ist grundsätzlich gut, aber das Konzept ist uns zu unrealistisch“, bilanziert Schöttl. Außerdem gebe es in Lenggries seit Jahren die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe „Nur a bisserl Zeit“ von Birgitta Opitz. Dass die Gemeinde gut 21 Millionen Euro in ein neues Pflegeheim investiert hat, das im Juli bezugsfertig ist und 90 Plätze bietet, von denen noch knapp 50 frei sind, sei im Gemeinderat nicht als Gegenargument vorgebracht worden. Das neue Heim sei ja im Unterschied zum Modell Quartierspflege, das nur für den häuslichen Bereich gedacht ist, eine stationäre Pflegeeinrichtung.

In Münsing wirbt Bürgermeister Michael Grasl (Freie Wähler) für das Projekt der Quartierspflege. Wer zur Gruppe pflegender Angehöriger zähle, brauche sehr viel Energie und stoße schnell an die Belastungsgrenze, sagt er. Wer berufstätig sei, könne das kaum leisten. Zusätzlich zu den Pflegediensten gebe es in Münsing etwa den Mittagstisch oder die Seniorentreffs. Auch die Nachbarschaftshilfe - wofür noch Engagierte gesucht werden - setze sich seit vielen Jahren ehrenamtlich ein. Darüber hinaus brauche es aber feste Strukturen wie die Quartierspflege. Das werde Geld kosten. Doch die Senioren hätten das verdient. „Wir müssen uns alle die Frage stellen, inwieweit wir bereit sind, unseren Nachbarn zu helfen“, so Grasl.

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:Icking lehnt Quartier-Pflege ab

Der Gemeinderat stimmt gegen das Projekt, bei dem Nachbarn bei der Versorgung unterstützen sollen.

Von Benjamin Engel

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