Kommentar:Theater und Wirklichkeit

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Günter Wagners Theaterstück "Flucht" ist beklemmender, als die Lokalpolitik es applaudierend wahrnimmt

Von Felicitas Amler

Der Geretsrieder Kulturherbst ist abermals für eine Überraschung gut. Vor zwei Jahren präsentierte sich Bürgermeisterin Cornelia Irmer dort Seit' an Seit' mit dem ausgewiesenen Linken Konstantin Wecker. Diesmal applaudiert die halbe Landkreis-Politelite einem Stück, das eine harsche Kritik an der Aushöhlung des deutschen Asylrechts ist. Also an jener Politik in Bundestag und Bundesrat, welche die Parteien zu vertreten haben, deren Repräsentanten unterm Zirkushimmel saßen: Christsoziale und Sozialdemokraten, und man darf sicher auch die vielen Freien Wähler dazurechnen. Bemerkenswert.

Günter Wagner hat mit seinem Theaterstück "Flucht" für einen Laienautor Beachtliches geleistet. Er hat die Lage der Flüchtlinge sorgfältig recherchiert. In manchen Passagen sind ihm auch theatralisch wirksame Dialoge geglückt. Außerdem scheut Wagner, im persönlichen Kontakt freundlich-konziliant, erfreulicherweise als Autor keine Tabuverletzung. So hält er im katholisch dominierten Bad Tölz-Wolfratshausen den Menschen krachend die Scheinheiligkeit ihrer Kirche vor. Streckenweise hat er sich allerdings in seinem Wissen verlaufen. Der Versuch, Journalistisches über Hintergründe der Asylsituation in Bühnendialogen zu platzieren, kann nicht gelingen. Da wird es schnell betulich und bemüht. Menschen reden plötzlich Papier. Und ausgerechnet der Protagonist, der afghanische Flüchtling, ist viel zu eloquent, als dass er ergreifend wirken könnte, und referiert seine schreckliche Mord- und Folter-Familiengeschichte wie eine Nachricht. Schade, hier fehlte es einfach an Atmosphäre.

Dennoch erlebt man ein anspruchsvolles Stück. Und thematisch wird es dem Anspruch auch gerecht. Wagner hat eine eindeutige Botschaft: Er will eine humane Asylpolitik. Das lässt sich gut beklatschen, wenn man nicht zu konkretem Handeln aufgefordert ist. So würde man sich wünschen, dass in den Diskussionen, die nach Überzeugung von Bürgermeister Michael Müller durch das Stück angeregt werden, jemand auf eines aufmerksam machte: Statt eines Afghanen hätte die Hauptrolle ein aus Rumänien stammender Rom sein können. Hätte es dann auch so viel Applaus gegeben? Und hätten dann auch all jene geklatscht, deren Parteifreunde im Bund soeben die Grenzen noch dichter gemacht haben? Damit die "Zigeuner" vom Balkan gar nicht erst Asyl beantragen können. Das nämlich ist in Wirklichkeit die "beklemmende Aktualität", von der Müller sprach.

© SZ vom 06.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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