Süddeutsche Zeitung

Tierschutz:Luftrettung für Bambi

Um sie vor dem Mähtod zu bewahren, müssen Rehkitze vor der Mahd von der Wiese geschafft werden. Studenten der Hochschule München forschen in Münsing daran, wie sie mit der Drohne geortet werden können.

Von Moritz Hackl

Es ist früh am Morgen. In der Dämmerung heben sich die weißen Alpen, deren Gipfel schon von der Sonne beschienen sind, von den Wiesen und dem dunklen Waldstück bei Münsing ab. Die Luft ist noch kalt. Surrend beginnen die vier Rotoren zu rotieren und die Drohne hebt ab. Sie steigt auf 40 Meter Höhe. Dann lässt Christian Eichholz die Fernsteuerung sinken und das Fluggerät schaltet auf Autopilot. Die Drohne fliegt jetzt in engen Linien die Wiese am Waldesrand ab.

Die Drohne sucht nach Rehkitzen, die von ihren Müttern zum Schutz im hohen Gras abgelegt werden. Im Mai und Juni kommen die Kitze zur Welt. In den ersten Wochen bleiben sie, gut getarnt und geruchslos, im hohen Gras liegen, nur ab und zu kommt die Rehgeiß vorbei, um sie zu säugen. Die Strategie, welche die Tiere gut vor Fressfeinden schützt, kann ihnen im Frühsommer aber auch zum Verhängnis werden. Denn dann ist auch die Zeit, in der Landwirte erstmals im Jahr ihre Wiesen mähen. Und ein Kitz bleibt ruhig im Gras liegen, da kann der Traktor auch noch so laut sein. Oft kommt es daher zu Unfällen.

Viele Rehkitze fallen jährlich dem Mähtod zum Opfer. Jäger und Naturschützer versuchen daher vielerorts, die Kitze in Absprache mit den Bauern vor der Mahd aus der Wiese zu retten. Mussten sie früher mühsam die Felder ablaufen, kommt ihnen heute dabei oft die moderne Technik zugute: Mit Drohnen und Wärmebildkameras lassen sich die Jungtiere leichter orten. Die Hochschule München forscht seit Langem an einem Projekt, bei dem auch künstliche Intelligenz zur Anwendung kommt. Unter der Leitung von Professor Frank Palme arbeiten die Studenten Markus Lindovsky, Florian Schmitter und Christian Eichholz an einer smarten Rehkitzrettung.

Im Kofferraum eines Geländewagens steht ein provisorischer Schreibtisch, darauf ein Laptop. Über den Bildschirm verfolgen die drei Studenten die Aufnahmen, welche die Wärmebildkamera der Drohne sendet. "Das sieht immer so aus wie die Auswertung von Mondbildern", sagt Lindovsky. Viel lässt sich mit ungeübtem Auge tatsächlich nicht erkennen. Zu sehen ist eine unbestimmbare Hügellandschaft - oder, wie die Studenten es nennen: eine thermische Signatur.

Schon seit mehreren Dekaden forschen Wissenschaftler und Studenten an der Rehkitzrettung mit Drohne. "Bei den meisten Systemen fliegt die Drohne los und sobald sie ein Kitz findet, wird die Suche unterbrochen", erklärt Lindovsky. Ihre Drohne funktioniert jedoch anders: Sie fliegt eine vorherbestimmte Route ab und zeichnet die Bilder auf. Ist der Flug abgeschlossen, markiert die Software gefundene Rehkitze mit einem roten Kreis. "Das ist natürlich praktisch, wenn sich mehrere Kitze auf einer Wiese befinden", sagt Lindovsky. "So spart man sich eine ganze Menge Zeit."

Ohne Drohne ist die Kitzsuche viel aufwendiger. "Sonst haben wir so viele Leute wie möglich in eine Reihe gestellt und sind mit Stöcken die Wiese abgelaufen", erzählt Landwirt Tobias Graf, dem die Wiese bei Münsing gehört. Die Drohne sei eine gute Lösung für die Zukunft. Zum Projekt ist Graf über Lindovsky gekommen. "Markus, woher kennen wir uns eigentlich? Aus der Schule?", fragt der Bauer und lacht. "Keine Ahnung. In Münsing kennt man sich eben", sagt er.

Die Studenten beugen sich über den Bildschirm, runzeln die Stirn. Es wird keine Wärmequelle auf der Wiese angezeigt. "Es kann natürlich sein, dass kein Kitz drin ist, aber eigentlich sind wir davon ausgegangen, dass wir welche finden", sagt Lindovsky. Es ist einfacher, die Kitze mit der Wärmebildkamera zu erkennen, wenn das Feld noch kalt ist. Sobald es von der Sonne beschienen wird, häufen sich die Fehlermeldungen. Auf dem Bildschirm sieht dann alles, was sich schnell erwärmt, wie Wild aus: Steine, Erdschollen oder Unebenheiten. Deshalb darf keine Zeit vergeudet werden. Die Studenten tragen die Drohne zum nächsten Wiesenabschnitt, wechseln den Akku und geben die Flugroute in den Computer ein. Lindovsky fährt den Geländewagen heran, Schmitter überprüft alles und gibt sein Okay. Es kann losgehen.

Per Fernbedienung lässt Eichholz die Drohne abheben und die Wiese abfliegen. Jedes Mal, wenn sie einen Wendepunkt erreicht, erklingt ein Signal. Gebannt verfolgen die Studenten die Drohne. Plötzlich, mitten über der Wiese, senkt sie ab. "Jetzt markiert sie", ruft Lindovsky. Und tatsächlich springt ein junges Reh auf und stößt einen spitzen Fiepton aus. Sekunden darauf erscheint ein Reh am Waldrand. Die Mutter kommt und holt das Kitz aus dem Gras in den Wald, weg von der vermeintlichen Gefahr.

Die Drohne fliegt noch die letzten Schleifen und kommt zurück. Lindovsky gibt die gespeicherten GPS-Koordinaten des Fundorts in sein Handy ein. In der Wiese ist nur noch eine plattgelegene Fläche zu sehen, auf der das Kitz lag. "Das muss ein älteres Tier gewesen sein", vermutet Betreuungsprofessor Palme. "Wenn die Kitze noch jünger sind, in den ersten beiden Wochen ihres Lebens, haben sie noch keinen Fluchtinstinkt, dann bleiben sie einfach starr liegen, ganz egal, was passiert." Für einen solchen Fall sind die Studenten vorbereitet: Sie haben sich von einem Jäger instruieren lassen, dass sie Handschuhe tragen sollten, wenn sie das Kitz von der Wiese tragen, weil sie sonst dessen Geruch verfälschen und die Mutter es nicht mehr annimmt. Sie hätten das Tier dann für die Zeit der Mahd in eine Box gelegt und danach an den Fundkoordinaten wieder ausgesetzt.

"Ich finde dieses Projekt so toll, weil die Studenten ganz praktisch erleben können, wie künstliche Intelligenz Leben retten kann", sagt Palme, der seit zwei Jahren an der Kitzrettung mit Drohne forscht. Und auch die Kooperation mit den Bauern und Jägern sei für die Studenten interessant. "Das ist mal etwas anderes, als immer nur theoretisch über all das zu diskutieren."

Mittlerweile ist über dem Feld bei Münsing die Sonne aufgegangen. Die Software wird fehleranfällig, Steine zu Rehkitzen. Aber auch dafür seien sie so früh rausgefahren, sagt Eichholz: "Es geht darum, die Software zu verbessern. Fehler sind willkommen."

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Quelle:
SZ vom 02.06.2021
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