Süddeutsche Zeitung

Kindersegen im Dorf:Nachwuchs-Champion Sachsenkam

Das Dorf lässt mit seiner Geburtenrate nicht nur den bayerischen, sondern auch den deutschen Durchschnitt weit hinter sich. Für manche liegt das an der Attraktivität der Kommune und dem Zuzug - für andere am nahen Kloster und dem kalten Klima.

Von Veronika Ellecosta

Im Jahr 2017 leben 1313 Menschen in Sachsenkam. 287 Milchkühe weiden auf den Wiesen rund um die Gemeinde, zwei Beherberbungsbetriebe haben null Gästeankünfte zu verzeichnen; so steht es im Bayerischen Landesamt für Statistik. Zwischen diesen Parametern aber hat sich seither einiges getan. Denn obwohl die Zahl der Geburten leicht rückläufig ist - 2017 kamen 15 Sachsenkamer Kinder zur Welt, 2016 waren es 17 und ein Jahr davor 19 - liegt die Geburtenrate des Dorfes inzwischen bei 2,22 Kindern pro Frau und damit über dem bayerischen Durchschnitt mit 1,56 Kindern (2016). Die Sachsenkamer Geburtenrate übertrifft auch jene von 1,3 Kindern je Frau in der Bundesrepublik um Einiges.

Der Mann hinter dieser Zahl heißt Christian Rindsfüßer, er ist Leiter des Instituts für Sozialplanung, Jugend- Altenhilfe, Gesundheitsforschung und Statistik in Augsburg. Für seine Berechnung beruft auch er sich auf die Daten zur Demografie in Sachsenkam des Bayerischen Landesamtes für Statistik und auf den bayerischen Wahrscheinlichkeitswert, in welchem Alter eine Frau ein Kind zur Welt bringt. Daraus hat Rindsfüßer den Erwartungswert für die Gemeinde ermittelt. Der Quotient zwischen dem tatsächlichen und dem erwarteten Wert ergibt schließlich die Geburtenziffer, auch "Total Fertility Rate" genannt. Sie gibt an, wie viel Kinder eine Frau durchschnittlich im Leben hätte, wenn die zu einem einheitlichen Zeitpunkt ermittelte altersspezifische Fruchtbarkeitsziffer für den gesamten Zeitraum ihrer fruchtbaren Lebensphase gelten würde.

Trotz der kinderreichen vergangenen Jahre ist Sachsenkam im großen Ganzen kein statistischer Ausreißer. Rindsfüßer kann auch das mit anderen Zahlen belegen. Viele Gemeinden im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, sagt er, hätten in der Untersuchung eine steigende Kinderzahl zu verzeichnen. Bayernweit kann der gesamte Landkreis sogar mit einer der höchsten Fertilitätsraten aufwarten. Als Begründung für den kleinen Babyboom verweist Rindsfüßer auf die Bau- und Wohnpolitik des Landkreises. Viele Gemeinden hätten somit den Zuzug für Münchner Familien ins Grüne ermöglicht. In der Gemeinde Sachsenkam, vermutet er, verhalte es sich genauso: "Sachsenkam ist nicht so groß, und es ist ländlich. Wenn ein neues Baugebiet entsteht, steigt die Geburtenrate, weil Familien hinziehen."

Auch die Gemeinde selbst hat auf die steigende Geburtenrate reagiert: Im September wurde das "Haus für Kinder" eröffnet, es bietet dem Nachwuchs gleich 75 Kindergartenplätze anstelle der bisherigen 50, die Anzahl der Krippenplätze hat sich mit 24 verdoppelt. Neu hinzu gekommen ist auch eine Schulkinderbetreuung für Kinder bis zur vierten Klasse. Einem Bauernhof im Heimatstil nachempfunden, mit Holzverkleidung im oberen Stock und Giebeldach, fügt sich die neue Kinderbetreuungsstätte harmonisch in das Dorfbild ein. Bürgermeister Johann Schneil (CSU/Unabhängige Wählerschaft) ist zufrieden mit dem Bau: "Wir haben vorher eine Bedarfsanalyse gemacht und gemerkt, hoppla, es reicht nicht mehr aus, wir brauchen mehr Platz." In seiner elfjährigen Periode als Bürgermeister hat er das stete Wachsen der Familien selbst miterlebt, beim Schreiben der Glückwunschkarten an jede frischgebackene Mutter etwa: "Es sind immer mehr Karten geworden."

Die Phase, in der viele Familien nach Sachsenkam zugezogen sind, liegt Schneil zufolge schon einige Jahre zurück. Dadurch, dass die Gemeinde mehr Doppel- und Einfamilienhäuser gebaut habe, seien damals viele Familien aus München nach Sachsenkam gezogen. "Wir haben aber auch Familien aus Ostdeutschland, die zwei bis drei Kinder haben", sagt er. Mit geplanter Familienpolitik der Gemeinde habe das nichts zu tun: "Es hat sich einfach so ergeben. Wir haben nicht mehr Baugründe ausgewiesen als benötigt, und wir wollen das auch nicht. Wir wollen gesund aufwachsen", sagt er. Um weiter auf die Nachfrage zu reagieren, plant die Gemeinde aktuell neue Doppelhäuser.

Für Schneil erschließt sich die Demografie von Sachsenkam derzeit aus dem hohen Anteil bäuerlicher Familien. "Jetzt sind die Mütter dran, die aus Großfamilien kommen. Sie gründen dann meistens auch kinderreiche Familien", sagt er. Das bestätigt auch Kreisbäuerin Ursula Fiechtner: Familien mit bäuerlichem Hintergrund würden die Gemeinde oft mit Kinderreichtum segnen. Der Bau des neuen Kindergartens, so die Bäuerin, erleichtere außerdem die Kinderbetreuung für arbeitende Eltern und sei oft ein entscheidender Faktor für einen Zuzug von außen.

Davon abgesehen gibt es für Fiechtner naheliegende Gründe, die jenseits der Familien- und Baupolitik der Gemeinden liegen: "Da unten ist es sehr kalt, wir nennen es oft Transsibirien. Und wenn es eine kalte Zeit gibt, gibt es nachher mehr Kinder. Das war schon früher so", sagt sie mit einem Schmunzeln. Zudem liege Sachsenkam unweit des Klosters Reutberg "Der göttliche Segen ist auch ein positiver Faktor." Wenn der Kinderwunsch sich nicht erfülle, würden sich in altbewährter Tradition Moorpackungen und -bäder empfehlen. Dafür biete sich ein Abstecher ins nahegelegene Kirchseemoor an, sagt Fiechtner.

Das Umfeld für die Familien gestaltet die Gemeinde laut Bürgermeister sehr kinderfreundlich: Es gibt Sportvereine, außerdem einen Trachten- und Schützenverein, der von der Jugend gern besucht werde. Daraus ergibt sich auch für Kathrin Marcher, Leiterin des neuen Kindergartens, der offensichtlichste Grund für den vielzähligen Nachwuchs: Sachsenkam sei schön, umgeben von Seen, Wäldern und Wiesen, geografisch praktisch gelegen zwischen Bad Tölz und München. "Da bekommen die Leute einfach gerne Kinder."

Schneil freut sich jedenfalls über die steigende Geburtenrate. "Kinder sind die Zukunft der Gemeinde, deswegen haben wir auch viel in sie investiert", sagt er. Wenn es aber nach Kreisbäuerin Fiechtner geht, wird der Kindersegen für die nächste Sommersaison ausbleiben. Die kalte Jahreszeit war mit dem lauen Herbst zu kurz.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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