Süddeutsche Zeitung

Kaum bekannte Meisterwerke:Eine neue Welt

Der Sänger Thomas Stimmel aus Icking hat die Werke dunkelhäutiger Komponisten zusammengetragen. Im Rilke-Gymnasium stellte er diese seltenen Fundstücke vor und überzeugte mit seiner meisterlichen Gestaltung

Von Reinhard Szyszka, Icking

Roots? Da gab's doch mal einen Roman von Alex Haley und eine darauf aufbauende Fernsehserie. Kunta Kinte, Chicken George - die Älteren erinnern sich. So wie damals der dunkelhäutige Autor Alex Haley aus den USA zu den Wurzeln seiner Familie hinabgestiegen war, so ist auch der dunkelhäutige Sänger Thomas Stimmel aus Icking hinabgestiegen - in die Bibliotheken und Archive, auch ins Internet natürlich. Stimmel, Sohn eines afrikanischen Vaters und einer deutschen Mutter, war auf der Suche nach Musik von schwarzen Komponisten, und er hat dabei Erstaunliches zutage gefördert. Nach dem Vorbild von Haley nennt Stimmel das Ergebnis seiner Suche "Roots / Wurzeln". Am Samstag stellte der Sänger seine Fundstücke in Icking vor.

Der kleine Konzertsaal im Rilke-Gymnasium war gut gefüllt, trotz oder gerade wegen eines Programms weit abseits des Mainstreams. Stimmel trat zunächst mit seinem Pianisten Philipp Vogler auf und eröffnete den Abend mit einem Lied des amerikanischen Komponisten Henry Thacker Burleigh. Mit mächtiger, dunkler, in allen Lagen ausgeglichener und wohltönender Stimme gestaltete der Sänger das Lied von der Dschungelblume. Erstaunt vernahm das Publikum eine meisterliche Musik ganz eigener Prägung, die die meisten noch nie gehört haben dürften.

Genau das war die Absicht: Hierzulande kaum bekannte Meisterwerke den Zuhörern nahezubringen. Und Stimmel schaffte es - mit den kurzen Erläuterungen zu den Komponisten und den Werken ebenso wie mit seinem schönen, warmen Timbre und mit der meisterlichen Gestaltung und Durchdringung des Gesangsparts. Bruchlos führte er die Stimme vom donnernden Fortissimo zum zart schwebenden Pianissimo, ganz wie es der Komponist vorschreibt. Vogler am Klavier war ein überaus aufmerksamer Partner, ständig mit den Augen beim Sänger, um alles, was dieser tat, sofort mittragen zu können.

Nach nur sechs Liedern wurde das Publikum schon in die Pause geschickt, weil die Bühne umgebaut werden musste. Denn nach der Pause kam das Hauptwerk des Abends an die Reihe: "Stabat Mater" von Julia Perry für Gesang und Streichquartett. Bei diesem eindrucksvollen, nuancenreichen Werk musste Stimmel zeigen, dass er nicht nur eine hervorragende Bass-Tiefe besitzt, sondern auch geradezu tenorale Höhen zu erklimmen vermag. Ein Klavierlied kann man ja fast beliebig nach unten transponieren, bei Streichquartett-Begleitung ist dies wegen des begrenzten Ambitus der Streichinstrumente nicht möglich.

Stimmel bewältigte den überaus anspruchsvollen Gesangspart mit mehr als zwei Oktaven Umfang nicht nur, sondern gestaltete, belebte dabei jedes Wort. Seinen dunklen Stimmklang behielt der Sänger auch in der Höhe bei. Das Streichquartett Eroica Berlin war der ideale Partner für diese Musik, mit rhythmischer Präzision und einer Vielfalt von Klangfarben. Man kam aus dem Staunen nicht heraus: über das vergessene Meisterwerk ebenso wie über die Künstler, die es jetzt wieder zum Leben erweckten.

Dann der zweite Bühnenumbau, die Streicherpulte verschwanden, das Klavier kam wieder nach vorne, und Stimmel gestaltete gemeinsam mit Vogler die Liedgruppe "Nightsongs" von Harrison Leslie Adams. Man spürte, dass der Sänger froh war, nach dem anstrengenden, höhenfordernden "Stabat Mater" wieder in seiner angestammten tiefen Lage agieren zu können. So gestaltete er die "Nightsongs" mit Witz und sichtlicher Freude am Singen, ohne dabei den präzisen Wortakzent, die überlegene Interpretation auch nur eine Sekunde lang zu vernachlässigen. Vogler am Klavier zeigte ähnliche Begeisterung am Musizieren. Er wippte im Takt der Musik mit und ließ sich dabei weder von den pianistisch anspruchsvollsten Stellen noch von den rhythmisch unangenehmsten Passagen aus der Ruhe bringen. Gemeinsam lieferten Stimmel und Vogler eine mitreißende Interpretation.

Nach dem letzten Lied "Creole Girl" mit seinem effektvollen Schluss brach der begeisterte Applaus los. Stimmel und Vogler ließen sich nicht lange bitten und präsentierten eine Zugabe: "My Lady" von Will Marion Cook. Bei diesem Song mit seinem dreimal wiederkehrenden Refrain sind sängerische Qualitäten gefragt, die in Richtung Musical deuten. Und Stimmel zeigte, dass er auch über solche Fähigkeiten verfügt. Flexibel, humorig, witzig sang er das Lied und machte die Zuversicht, die der Text ausstrahlt, spürbar. Auch hier ging Vogler bei jeder kleinsten Nuance mit. Erneut begeisterter Applaus, doch eine weitere Zugabe gab es nicht.

Fazit: Die Suche des Thomas Stimmel hat sich gelohnt. Die CD, die eigentlich zum Konzert hätte vorgestellt werden sollen, war nur mit einer Notpressung fertig geworden, ohne Booklet, und wurde verschenkt. Doch mit seiner Musikauswahl, mit der Meisterschaft seines Gesangs und seiner Interpretation hat Stimmel dem Publikum eine neue Welt erschlossen.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2017
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