Das Büro von Mirjam Majer ist noch nicht eingerichtet. „Die Bilder fehlen“, sagt sie und zeigt auf die kahlen Wände. „Aber innerlich fühle ich mich schon angekommen.“ Am 1. Juni hat die 42-Jährige die Leitung des Jugendamts in Bad Tölz von Ulrich Reiner übernommen, der nach 15 Jahren auf diesem Posten in Rente gegangen ist. Majer kennt ihn gut und lang. In den vergangenen Jahren haben sie öfter miteinander zu tun gehabt. Ob sie das Gefühl habe, in große Fußstapfen zu treten? Sie überlegt. In Fußstapfen treten wolle sie generell nicht, sie müsse schon ihren eigenen Weg finden. „Aber an die Fußstapfen herantreten und schauen, das werde ich sicherlich.“
Herantreten und schauen, offen sein für Inspiration und dann trotzdem den eigenen Weg finden: das zieht sich durch Majers Biografie. Nach dem Abitur, das sie 2001 in Tölz machte, ging sie erst einmal zur Bundeswehr, Stützpunkt Berchtesgaden. Nach kurzer Zeit habe sie gemerkt: „das ist ja nicht nur Sport“ – und die Laufbahn abgebrochen. Majer kennt das Gefühl, als junger Mensch nicht zu wissen, was man eigentlich will. Auf dem Radl ist es ihr irgendwann gekommen: Jugendsozialarbeit, das wäre doch was. An der katholischen Stiftungshochschule in Benediktbeuren fing Majer also an zu studieren, „von der Kaserne ins Kloster“, sagt sie und lacht dabei. Nach einem Diplomabschluss und einem praktischen Jahr in der Jugendbildungsstätte Königsdorf hat sie sich als Jugendsozialarbeiterin selbständig gemacht, Schwerpunkt: Familienhilfe.
Ihre eigene Biografie habe sie wohl auch in diese Richtung beeinflusst, sagt Majer. Ihr Vater ist tödlich verunglückt, als sie 16 war. „Ich wurde zum Glück sehr gut aufgefangen“, sagt sie. „Und das, was ich bekommen habe, möchte ich ein Stück weit zurückgeben.“
„Ich wollte da sein, wo andere institutionell nicht sind“
Also fängt Majer an, sich in Wohnzimmer zu setzen und zuzuhören. Ihre Klienten sind Schwangere, Säuglinge, 20-jährige Straffällige, Geflüchtete. „Ich wollte da sein, wo andere institutionell nicht sind.“ Damit meint Majer die Justiz, aber auch Polizei und Politik, die sich erst ins Private einmischen, wenn Grenzen des Rechts überschritten werden. Oft ist es dann schon zu spät. Die Jugendsozialhilfe steht dazwischen, ist Knautschzone, aber auch Vermittler und Ansprechpartner. Majer hat diese Arbeit immer sehr gerne gemacht. Nah am Menschen, nah an den Problemen. Das sei nicht immer einfach gewesen, sagt sie und erinnert sich zum Beispiel an eine Inobhutnahme von drei kleinen Kindern, die sie angeordnet hat. „Fachlich richtig, aber eine menschliche Tragödie“, sagt sie.
Majer spricht leise und wählt ihre Worte bedacht. Ihre Sternchen-Ohrringe wippen, während sie spricht. Man merkt, dass Jugendhilfe mehr für sie ist als nur ein Job. Sie redet über professionelle Distanz, einen offenen Blick, Fachlichkeit, Supervision und Selbstreflexion als Voraussetzung für gute Arbeit.
Majer hat keine eigenen Kinder, wollte sie nie. Sie spricht viel von Freiheit und Unabhängigkeit. Aber auch davon, dass sie jetzt ganz viele Kinder hat. Dass sie immer in ihrem Beruf aufgegangen ist. Dass alles genau so ist, wie es sein soll.
Die Ressourcen in der Jugendhilfe sind begrenzt
Majer leitet ein Amt, das multipel belastet ist. Immer weniger Menschen wollen in der Sozialarbeit tätig sein, immer mehr finanzielle Mittel werden gekürzt. Und überhaupt: Alle – Kinder und Erwachsene – seien viel belasteter als noch vor ein paar Jahren. Da war die Corona-Pandemie, sagt Majer, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, internationale politische Spannungen und generell ökonomische Unsicherheiten, eine Konsequenz all dieser Krisen. „Diese Belastung spüren nicht nur die Erwachsenen“, sagt sie. Jugendhilfe sei ein sehr empfindsamer Seismograph für gesellschaftliche und politische Umbrüche und Krisen. „Wir merken das sofort. Weit vor der Politik“, sagt sie. Belastungsgrenzen spürt man im politischen Berlin zum Beispiel in Form von Haushaltsstreitigkeiten eben so, wie im Jugendamt des Bayrischen Oberlands. Überall sind die Mittel knapp.
Wie geht man damit um, wenn der Wille allein nicht reicht? „Man muss kreativ werden“, sagt Majer. In der Jugendhilfe gehe es ihr vor allem um Prävention, Sichtbarkeit und um Zusammenarbeit. Dafür ist sie im engen Austausch mit der politischen Ebene. Sie ist beratendes Mitglied im Jugendhilfeausschuss und pflegt die Verbindung zu Jugendhilfeträgern im gesamten Landkreis, zur Polizei, eigentlich zu allen, die die soziale Struktur aufrechterhalten. „Wir sitzen alle im gleichen Boot“, sagt sie.Wenn man mit Majer spricht versteht man, dass Jugendhilfe nicht ein isoliertes Problem von Wenigen ist, die mit Kindererziehung überfordert sind. Jugendhilfe ist ein Puzzleteil einer funktionsfähigen und gesunden Gesellschaft.
Majer sitzt jetzt nicht mehr in den Wohnzimmern, sie hält die Fäden in der Hand, die in die Wohnzimmer führen. Sie hat Budgetverantwortung und macht die Haushaltsplanung, sie beantragt neue Stellen und kümmert sich um die rund 80 Mitarbeitenden des Jugendamts. Die meisten davon seien jahrelange Weggefährten. Sie sei dankbar, sagt sie, dass die Menschen sich das noch antun. „Entschuldigung“, sagt sie. „Aber so ist es leider. Wir sind ja alle belasteter als noch vor ein paar Jahren.“ Und trotz all der Anstrengungen und Herausforderungen würde sie keinen anderen Job lieber machen. Vor allem die Vielfalt gefalle ihr. Die Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen, die Perspektiven. „Es ist egal, ob es die afghanische Frau oder der oberbayrische Bauer ist: Jeder Mensch hat etwas zu sagen“, so Majer. Manche bräuchten eben Hilfe dabei. Und diese Erkenntnis, wenn man merkt, dass man tatsächlich helfen kann, die habe schon etwas Demütiges.
Zum Ausgleich geht Majer in die Berge
Auf die Hilfe vom Jugendamt warten im Landkreis tatsächlich einige: Schulen, die neue Mitarbeitende brauchen. Ukrainische Geflüchtete. Alleinerziehende Mütter. Majer freut sich auf all die Herausforderungen im Landkreis. „In meinem Landkreis“, wie sie sagt. Die Work-Life-Balance ist ihr trotz der ganzen Arbeit sehr wichtig. „Ich will mich nicht kaputt arbeiten“, sagt sie. Und außerdem wolle sie ein Vorbild für all ihre Mitarbeitenden sein, am Wochenende arbeitet sie nur, wenn es wirklich sein muss.
Und ansonsten? Was macht Majer, wenn sie nicht im Büro im Landratsamt sitzt, Klienten oder andere institutionelle Vertreter oder Träger trifft? „Die Berge“, sagt sie, und schwärmt vom Karwendel, von der Ruhe und den Relationen, die einem beim Berglaufen immer wieder vor Augen geführt würden. „Das erdet mich“, sagt sie. Ansonsten macht Majer das, was eben so anfällt, wenn man frei hat. Einkaufen, Auto waschen, Haushalt, sagt sie. Und ins Fitnessstudio gehe sie auch ganz gern. Das Bedürfnis zu reisen hat Majer eher weniger. „Ich wohne, wo andere Urlaub machen“, sagt sie. Fliegen findet sie außerdem nicht mehr zeitgemäß.
Als der Fotograf kommt, entschuldigt sie sich noch einmal für die kahlen Wände, sie sei noch ganz neu hier. Nicht einmal Bücher habe sie in ihrem Büro. Das Cover ihres Lieblingsbuchs zeigt sie deshalb auf ihrem Handy. Es heißt „Jeder Moment ist Ewigkeit“ und handelt von einer Kriegsreporterin. Könnte aber auch um die Jugendhilfe gehen.