Interview:"Wenn eine ungeimpfte Schwester eine 90-Jährige betreut, finde ich das verantwortungslos"

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Jörg Lohse, ärztlicher Corona-Koordinator im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, erklärt, was er von einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen hält.

Interview von Kathrin Müller-Lancé

Die Siebe-Tage-Inzidenz im Landkreis erreicht beinahe täglich neue Höchstwerte. Einige Kliniken haben bereits ein Besuchsverbot erlassen. Die Rufe nach einer Impfpflicht für Beschäftigte in den Gesundheitsberufen werden immer lauter. Jörg Lohse, ärztlicher Corona-Koordinator im Landkreis, erklärt, was er davon hält.

SZ: Herr Lohse, was bedeuten die steigenden Inzidenzwerte für Ihre Praxis?

Jörg Lohse: Durch die hohen Infektionszahlen gehören richtig schwere Fälle mittlerweile zu unserem täglich Brot. Weil die Kliniken so voll sind, behandeln wir zum Teil auch Patienten, die wir früher ins Krankenhaus geschickt hätten. Auch bei uns ist die Lage zunehmend angespannt. Wir machen sehr viele Testungen, haben täglich etwa zehn neue Fälle, und impfen sollen wir auch noch - das zeigt unsere Grenzen auf.

Zwei Kliniken im Landkreis haben ein Besuchsverbot erlassen. Man darf als Geimpfter jetzt nur in Ausnahmefällen Patienten besuchen, Ungeimpfte dürfen weiter in den Kliniken arbeiten. Ist das fair?

Da muss man zunächst differenzieren: In den meisten Kliniken im Landkreis gilt die 2-G-Regel und eine FFP2-Maskenpflicht für Besucher. Ich muss aber sagen, dass mein Verständnis für ungeimpfte Mitarbeiter in der Pflege mit der Zeit schwindet. Man kann sich nicht fürsorglich um Schwache kümmern und ihnen dann Corona spendieren.

Sie wären also für eine Impfpflicht für Mitarbeitende im Gesundheitssystem?

Ich halte die Voraussetzungen dafür mittlerweile für absolut gegeben. Das entspricht auch meiner persönlichen Ethik. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn ein Raucher in einer Bruchbude mit viel Brandstoff raucht, ist das seine Sache, damit gefährdet er nur sich selbst. Wohnt im ersten Stock über ihm aber eine Familie mit Kindern, gefährdet er auch die. Da würde ich sagen: Halt, du darfst nicht rauchen. So ist es auch in der Pflege: Wenn im Heim eine ungeimpfte Schwester eine 90-Jährige betreut, finde ich das verantwortungslos. Die Freiheit des einen endet da, wo er die Freiheit des anderen kaputt macht.

Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht?

Da würde ich es bei der Freiheit des Einzelnen belassen. Ich habe als Kind noch die Pflicht zur Pockenschutzimpfung erlebt, das war schwierig. Ich finde aber, dass Ungeimpfte durchaus nicht an allen Segnungen der Freizeitgestaltung teilhaben sollten. Da wäre ich für eine 2-G-Regel. Und am Arbeitsplatz 3 G. Die 3-G-plus-Regel halte ich übrigens für eine Fehlgeburt.

Warum?

Das ist ein logistisches Problem. Bis das Ergebnis nach ein oder zwei Tagen da ist, kann es längst nicht mehr aktuell sein, weil in der Zwischenzeit die Erkrankung ausgebrochen sein kann. Und es ist ein hoher Aufwand. Sie müssen erst mal eine Teststelle finden, viel Geld bezahlen. Schnelltests sind günstiger und bilden den tatsächlichen Stand ab. Auch wenn sie natürlich nicht so zuverlässig sind. Für Veranstaltungen am sichersten fände ich eine 2-G-plus-Regel, bei der man also geimpft oder genesen und schnellgetestet sein muss.

Halten Sie es für falsch, dass die Politik die kostenlosen Tests abgeschafft hat?

Nein, ich fände es unsinnig, die kostenlosen Tests wieder einzuführen. Warum sollten die Geimpften von ihren Steuergeldern die Tests für Ungeimpfte bezahlen? Das ist eine politische Nebelkerze. Man möchte die Konfrontation vermeiden, und die Steuergelder soll dann die nächste Regierung wieder eintreiben. Außerdem: Wer soll all diese Tests machen? Auch in diesem Fall halte ich Selbsttests für günstiger und weniger aufwendig. Inzwischen sind die Schnelltests als Selbsttest sehr günstig überall zu bekommen. Ich sehe es aber als Gefahr, wie emotional die Debatte zwischen Geimpften und Ungeimpften im Moment geführt wird. Es wird auch eine Zeit nach der Pandemie geben. Und auch dann sollten wir uns noch gegenseitig in die Augen schauen können.

© SZ vom 11.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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