Inklusion:Den Alltag anders erleben

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Schüler der 6. Klasse am Gymnasium in Geretsried erleben die Welt von Menschen mit Behinderung. Sie merken, wie hier im Bild, dass Ballspielen im Rollstuhl gar nicht so einfach ist. (Foto: Hartmut Pöstges)

Menschen mit Behinderung zeigen Schülern am Gymnasium in Geretsried, welche Hürden sich vor ihnen auftun und wie sie diese überwinden. Der "Perspektivwechsel" des Vereins Gemeinsam Mensch klärt Sechstklässler auf

Von Sally-Victory Jüssen, Geretsried

Einhändig versucht Vincent eine Karotte zu schälen, seine rechte Hand, geformt zu einer Faust, steckt dabei in einem weißen Handschuh. Die linke Hand steckt in der Schlaufe eines Gummibandes, auf dem der Schüler sitzt. Mühsam versucht er mit einem Sparschäler eine Möhre von der Schale zu befreien. Eine Tortur die dem Sechstklässler einen Einblick geben soll wie hart der Alltag ist, wenn man an einer Infantilen Zerebralparese erkrankt ist. Diese führt zu spastischen Störungen des Nerven- und Muskelsystems und beeinträchtigt die Bewegung und die Haltung.

Zum vierten Mal hat heuer das Projekt "Perspektivwechsel" des Vereins Gemeinsam Mensch am Gymnasium in Geretsried stattgefunden. Gegründet wurde der Verein von acht Bewohnern des Münchner Förderzentrums. Im Jahr 2002 gab es das Projekt "Perspektivwechsel" zum ersten Mal an einer Schule. Initiiert von Anita Donaubauer, die seit ihrer Geburt an einer Infantilen Zerebralparese erkrankt ist. Donaubauer findet es wichtig aufzuklären, denn die Chancengleichheit sei in Deutschland vorgeschrieben und die Lehrkräfte seien teilweise überfordert. Es sei wichtig, die Kinder im Klassenverband zu integrieren. Donaubauer erzählt, dass das Projekt mit drei Modulen gestartet sei und dass es nun bereits fünf Module gebe. Angebotene Module sind die Gesprächsrunde, Sehbehinderung, Greifbehinderung, Rollstuhlbasketball und der Rollstuhlparcours. Konzipiert ist das Projekt für 60 Teilnehmer, die nacheinander die 20 bis 30 minütigen Module durchlaufen.

Das Modul "Greifbehinderung" wurde von Donaubauer und der ebenfalls an Erkrankten Tanja Zeiler entwickelt. Die Einschränkung, welche die Lähmung mit sich bringt, soll den Kindern dadurch vermittelt werden. Die beiden Rollstuhlfahrerinnen geben der Gruppe von zehn Schülern die Aufgabe, einen Handschuh anzuziehen und mit dieser eine Faust zu bilden. Alle Handschuhe sind verschieden und manche haben nur vier Finger oder keinen Daumen. Die erste Erkenntnis, welche die Schüler daraus ziehen ist, dass jede Hand anders ist. Um den Kindern die Stärke eines Muskelkrampfes nachvollziehbar zu machen, gibt Zeiler die Anweisung, dass sie sich auf ein Gummiband setzen sollen. Mit Spannung soll die Hand, die nicht am Sparschäler ist, durch die Schlaufe des Bandes gezogen werden. Dann soll versucht werden, die Möhre zu schälen. Die meisten Schüler scheitern oder brauchen außergewöhnlich lange. Vincent sagt bestürzt: "Ich könnte das nicht aushalten".

Die beiden Modulleiterinnen haben noch weitere Angebote mitgebracht, um zu zeigen, dass sie im Alltag auf Hilfe angewiesen sind, denn das Öffnen einer Flasche oder das Anziehen einer Jacke ist für die beiden alleine nur bedingt möglich. Die Kinder fühlen sich "gefangen" und "eingeschränkt" in den Situationen, da es für sie ungewohnt ist die Aufgaben nicht selbständig oder nur mühsam zu bewältigen. Donaubauer sagt, dass sie akzeptieren, dass sie Hilfe benötigen. Zeiler sehe sich gleichgestellt zu gesunden Menschen, jedoch brauche sie mehr Zeit für verschiedene Tätigkeiten.

Im Modul "Sehbehinderung" zeigt der Blinde Werner Noits, welche Schwierigkeiten sich in seinem Alltag ergeben. Auf einer Punktschreibmaschine tippt er in Brailleschrift die Namen der Schüler. Noits ruft bei den Kindern Bewunderung hervor, denn er erzählt, dass er im Alter von 40 Jahren erblindet ist. Der heute 73-Jährige musste lernen, mit seinem Handicap umzugehen. Noits zeigt diverse Gadgets, die ihm das alltägliche Leben erleichtern. Zum einen nutzt er sein Farberkennungsgerät um sich morgens anzuziehen. Damit seine Socken auch farblich zusammenpassen. Durch das Farberkennungsgerät weiß er auch, woher das Licht kommt. Bewundernswert finden die Schüler auch den kreditkartengroßen Cash-Test, mit dessen Hilfe Noits Banknoten identifizieren kann oder auch den Füllstandmesser, mit dem durch ein Geräusch signalisiert wird, wenn ein Behälter voll ist. Auch zeigt er ihnen eine Zeitschrift für Blinde. Diese ist in Kurzschrift geschrieben. Noits erklärt, dass beispielsweise "d" und "m" das Wort "damit" ergeben. Die Schüler testen auch selbst aus, wie es ist, nichts zu sehen. Dazu bekommen sie Augenbinden und einen Blindenstock. Mit einem Partner an der linken Seite und dem Blindenstock in der rechten Hand ziehen sie dann durch die Korridore des Schulgebäudes. Durch die pendelnden Bewegungen des Blindenstocks versuchen sie den Weg durch die Flure zu finden.

Von dem Projekt profitieren beide Seiten gleichermaßen, berichtet Donaubauer. "Eine Win-Win-Situation entsteht, denn die Schüler lernen den Umgang mit Behinderten und die Behinderten lernen ihre Situation besser zu akzeptieren," so Donaubauer. Auch Zeiler stimmt der Aussage zu: "Das Projekt ist ein Erfolg, denn dadurch bin ich selbstsicherer geworden und traue mir mehr zu." Und Noits sagt: "Es liegt in meinem Interesse, den jungen Leuten die Angst vor Behinderten zu nehmen. Die meisten Erwachsenen gehen außen rum wenn sie einen Blinden sehen, was sie aber nicht tun sollten. Man sollte Hallo sagen und die Person fragen ob sie Hilfe benötigt. Die Person muss aber auch sagen wie man helfen kann." Die Lehrerin Birgit Stein, die am Gymnasium für Inklusion zuständig ist, bestätigt, dass das Projekt gut von den Kindern angenommen werde. Das Projekt sei wichtig, sagt sie. Während des Projekts habe aus der Sicht der Schüler sogar ein kurzzeitiger Perspektivwechsel stattgefunden.

© SZ vom 09.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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