Politik in Bad Tölz-Wolfratshausen:"Barrierefreiheit wurde von Beginn an verschlafen"

Lesezeit: 3 min

Inklusion ist immer ein großes Thema - speziell bei Wahlen. (Foto: imago classic/imago images/Shotshop)

Markus Ertl, Sprecher vom Arbeitskreis für Menschen mit Behinderung, erklärt, wie inklusive Wahlen funktionieren können und wo der Landkreis überall noch anpacken muss.

Von Lorenz Szimhardt, Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen

"Demokratie braucht Inklusion." So lautet das Motto von Jürgen Dusel, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der Arbeitskreis für Menschen mit Behinderung im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen führt diese Devise fort und sagt: "Inklusion braucht Barrierefreiheit." Diese wird allerdings häufig eindimensional und nicht zu Ende gedacht, sagt Markus Ertl, Sprecher des Arbeitskreises. Viele Wahllokale würden zwar als barrierefrei bezeichnet, oft werde dabei jedoch nicht an alle Menschen mit Behinderung, sondern nur an Rollstuhlfahrer gedacht, so Ertl. Auch die Bedürfnisse dieser würden zudem nicht ausreichend berücksichtigt: "Eine Wahlkabine, die nicht vernünftig unterfahrbar ist, ist für einen Rollstuhlfahrer nicht nutzbar."

Markus Ertl sitzt für die Freie Wählergemeinschaft Lenggries im Gemeinderat und ist zudem als Referent für Inklusion und Teilhabe tätig. (Foto: Freie Wähler/oh)

Deshalb will der Arbeitskreis sowohl die breite Öffentlichkeit als auch Politiker und Wahlvorstände für das Thema sensibilisieren - zumal in diesem Jahr die Wahl zum Bayerischen Landtag ansteht.

Der erste Schritt politischer Teilhabe, die Barrierefreiheit, erstreckt sich entgegen der Wahrnehmung vieler, weit über rollstuhlfreundliches Bauen hinaus. Als Beispiel nennt Ertl eine Wahlinformation per Post: "Die bringt mir als Blinder nicht viel und landet meistens sehr schnell im Papierkorb." Deshalb sei es umso wichtiger, dass alle Informationen auch digital barrierefrei zur Verfügung gestellt werden. "Hier ist das Bewusstsein bei den Parteien einfach noch nicht da", meint der 49-Jährige. Bei der Gestaltung der Wahllokale müssten neben der ebenerdigen Zutrittsmöglichkeit zum Beispiel auch die Beleuchtung, die Schulung des Personals und das Gewicht der Türen berücksichtigt werden.

Zudem seien viele Menschen auf leichte Sprache angewiesen, um ein Verständnis für Politik zu bekommen. Die Regionale Offene Behindertenarbeit des Landkreises möchte hierzu im Vorfeld der Landtagswahl eine Veranstaltung durchführen, um die politische Willensbildung zu unterstützen, so Ertl. Seinen Kampf für mehr Barrierefreiheit auf jeglichen Ebenen führt der Arbeitskreis mit den unterschiedlichsten Mitteln. Von Infoveranstaltungen über Gespräche mit Politikern und Wahlleitern bis hin zu Checklisten für Barrierefreiheit soll nichts unversucht bleiben, um von der Wichtigkeit des Themas zu überzeugen.

Behindertengerecht zu werden, das kostet Zeit und Geld

Barrierefreiheit sei jedoch auch ein "Ressourcen-Thema". Zu versuchen, dieses auf die Schnelle umzusetzen, funktioniere nicht, sagt Ertl. "Für meine Belange hat die Politik das Thema von Beginn an verschlafen", konstatiert der Lenggrieser Gemeinderat. Beispielsweise gebe es die Verpflichtung im Personenbeförderungsgesetz, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) barrierefrei zu gestalten, bereits seit 2013. Demnach müsste seit dem 1. Januar 2022 eine vollständig barrierefreie Nutzung des ÖPNV möglich sein. In der Realität sehe dies jedoch anders aus: In den vergangenen zehn Jahren sei nichts passiert, kritisiert Ertl.

Für eine möglichst zeitnahe Umsetzung des Themas wünscht sich dieser einen klaren Fahrplan von der Politik. Nur zu sagen "wir machen das schon irgendwann", ist Ertl zu wenig. "Um wählen gehen zu können, muss man das Wahllokal ja erst einmal barrierefrei erreichen können - und das natürlich am besten mit dem ÖPNV", gibt Ertl zu bedenken.

Theoretisch könne jeder Mensch mit Behinderung die Barrierefreiheit im ÖPNV aktiv einfordern. Konkret heißt das laut Ertl, dass Betroffene die Kosten, die durch fehlende Barrierefreiheit entstehen, an die Kommunen weitergeben können. Mit dem Regionalverkehr Oberbayern (RVO), der mit seinen Bussen auch den Landkreis bedient, hat Ertl bereits eine Vereinbarung getroffen: Wenn der Betroffene aufgrund einer Änderung des Einstiegsortes ohne Durchsage am Busbahnhof zurückbleibt, kann er seine Taxirechnung beim RVO einreichen und sich diese bezahlen lassen.

Für Betroffene mit Handicap sind Bushaltestellen kein leichtes Pflaster - besonders der ZOB in Bad Tölz. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Auf die Frage, wo es in Bad Tölz-Wolfratshausen konkret an Barrierefreiheit mangelt, antwortet Ertl: "Eigentlich im gesamten Landkreis." Nach langem Einsatz bekommt Ertls Heimatgemeinde Lenggries dieses Jahr nun endlich die ersten beiden barrierefreien Bushaltestellen. Jedes Jahr sollen laut Plan zwei bis drei weitere folgen, so Ertl. Insgesamt ist die Gemeinde für circa 30 Bushaltestellen zuständig. Im gesamten Landkreis seien nur die Bushaltestellen der Gemeinde Bichl komplett barrierefrei. "Die haben aber auch das Glück, dass sie nur zwei Bushaltestellen haben", merkt Ertl an.

Negativ hebt er den Zentralen Omnibusbahnhof Bad Tölz hervor. Neben dem für Rollstuhlfahrer ungünstigem Kopfsteinpflaster und der zu schweren Toilettentür stelle vor allem das Blindenleitsystem ein Problem dar. Zwar wurde ein Knopf installiert, welcher Sehbehinderten mit Durchsagen helfen soll, jedoch führt kein Blindenleitsystem dorthin, moniert Ertl. Es sei jedoch wichtig, "nicht bei der Bushaltestelle aufzuhören, zu denken". Auch in der Infrastruktur außenherum müssten die Belange möglichst vieler Menschen berücksichtigt werden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGartenpflege
:Gefahr auf Rollen

Mähroboter halten in immer mehr Gärten den Rasen kurz. Dort bedrohen die Maschinen jedoch Igel und andere Kleintiere - besonders, wenn sie nachts laufen.

Von Quirin Hacker

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: