Ingenieursgeschichte:1200 Meter Pionierarbeit

Walchenseekraftwerk historischer Durchstich Stollen

Das bekannte Walchenseekraftwerk gilt noch heute als Meisterstück der Ingenieurskunst. Im Mai vor genau 100 Jahren gelang Bergarbeitern mit dem Kesselbergstollen hier ein wichtiger Felsdurchbruch.

(Foto: Privat/OH)

Im Mai 1921 wurde mit dem Kesselbergstollen das wichtigste Verbindungselement für das Walchenseekraftwerk fertiggestellt. Rund 2000 Bergarbeiter und Ingenieure arbeiteten damals unter widrigsten Umständen an dem komplizierten Felsdurchbruch

Von Claudia Koestler

Um erstmals regenerative Energie im großen Stile produzieren zu können, bedurfte es zunächst Schweiß und Muskelkraft - und davon richtig viel: Vor genau 100 Jahren gelang der Durchschlag im Kesselbergstollen, dem wichtigsten Verbindungselement des Walchenseekraftwerks.

Seit dem 26. Januar 1924 wird der natürliche Höhenunterschied zwischen dem Walchensee und dem Kochelsee zur kohlendioxidfreien Gewinnung von Strom genutzt. Seitdem speist das Walchenseekraftwerk Strom ins öffentliche Netz ein. Mit einer durchschnittlichen Jahreserzeugung von 300 Millionen Kilowattstunden ist es noch heute eines der größten Speicherkraftwerke Deutschlands und leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Deckung des Strombedarfs.

Rund sechs Jahre, bevor das Kraftwerk erstmals in Betrieb ging, beziehungsweise knapp zweieinhalb Jahre, bevor der Durchstich des Tunnels gelang, war im Herbst 1918 mit den Arbeiten am Kesselbergstollen begonnen worden. Erst kurz zuvor war im Bayerischen Landtag der endgültige Bau des Walchenseekraftwerks beschlossen worden. Die Idee für das Kraftwerk war hingegen bereits 1897 entstanden, als die Ingenieure Rudolph Schmick, Jean Jaquel und Fedor Maria von Donat erste Pläne für eine Nutzung des Höhenunterschieds von Walchensee und Kochelsee zur Stromerzeugung ausarbeiteten. 1909 schrieb die Regierung einen Wettbewerb aus, bei dem sechs von 31 Entwürfen prämiert wurden. 1918 fiel dann schließlich der Entschluss, das Vorhaben umzusetzen - für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg "eine Meisterleistung", sagt Theodoros Reumschüssel, Pressesprecher der Eon-Tochter Uniper, die heute das Kraftwerk betreibt.

Walchenseekraftwerk historischer Durchstich Stollen

Durch die geschaffene Röhre gelangt das Wasser zum sogenannten "Wasserschloss", einem Zwichenbecken, vom dem aus das Wasser dann 200 Meter in die Tiefe stürzt.

(Foto: Privat/OH)

Über 2000 Arbeiter und Ingenieure kamen mit dem Projekt damals zu Lohn und Brot. In dem sehr dünn besiedelten Gebiet - Kochel hatte damals rund 1600 Einwohner - gab es zunächst so gut wie keine Straßen oder Wohnungen für die Beschäftigten. "Unter unvorstellbaren Mühen mussten die Arbeiter schwerste Bauteile wie Rohre, Turbinen und Generatoren herbeischaffen", berichtet Reumschüssel. Im Winter sei das Baumaterial teilweise nur mit Schlitten zu befördern gewesen. Schwere Teile für die acht Maschinensätze kamen per Bahn nach Kochel. Über ein eigens verlegtes Gleis wurden sie zu einer Hafenanlage am Ufer des Kochelsees gebracht. Von dort aus ging es per Schiff weiter zur Baustelle.

Der Kesselbergstollen wurde parallel von Norden und Süden her in den Berg getrieben. Etwa zwei bis drei Meter kamen die Arbeiter täglich auf jeder Seite voran, bis die insgesamt etwa 1200 Meter geschafft waren, die der Stollen mit seinen etwa 4,6 Metern Durchmesser heute noch der Länge nach misst. Das abgetragene Material wurde in Zügen mit sogenannten Benzollokomotiven abtransportiert und für die anfangs geplante Weiterverwertung als Betonzuschlag am Bauplatz beim Wasserschloss gelagert. Insgesamt wurden circa 40 000 Kubikmeter Fels und lockeres Material zum Teil mit Pickel und Schaufel bewegt. Wegen der militärischen Besetzung des Ruhrgebiets nach dem Ersten Weltkrieg und wegen eines Streiks im Herstellerwerk verzögerte sich auch die Montage der sechs rund 400 Meter langen Druckrohre. Sie wurden in Abschnitten von acht Metern Länge geliefert und an Ort und Stelle vernietet.

Vor allem die Frischluftzuführung bei den Arbeiten am Stollen bereitete große Schwierigkeiten. Ein Luftschacht auf der Nordseite bewährte sich nicht, auch ein Ventilator brachte keine wesentliche Verbesserung. "Erst der Stollendurchschlag am 12. Mai 1921 beendete dieses Problem", berichtet Reumschüssel. Der Durchschlag und damit die Verbindung der beiden Stollen habe ohne nennenswerte Abweichung funktioniert - "angesichts der damals zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für Messung und Peilung eine Sensation für sich", sagt der Pressesprecher.

Dieser treffgenaue Durchschlag wurde von der Bauleitung auch aus anderen Gründen "freudigst begrüßt", hatte doch die Zeit der Ungewissheit über Wassereinbrüche und weitere geologische Überraschungen endlich ein Ende. Eine solche Überraschung war zum Beispiel ein etwa 50 Meter langes Anhydrit-Vorkommen im Dolomit-Gestein, etwa in der Mitte der Gesamtstrecke. Anhydrit ist nichts anderes als Gips, dem durch Gebirgsdruck das Wasser entzogen wurde. In Verbindung mit Wasser wird Anhydrit zu mürbem Gips und quillt auf. "Das galt es zu verhindern, da ansonsten die Gefahr eines Stolleneinbruchs bestanden hätte", erklärt Reumschüssel. Der betreffende Abschnitt wurde vor der Flutung des Stollens deswegen mit einem vierfachen Klinkermantel ausgemauert, während die restliche Strecke des Stollens mit Spritzbeton ausgekleidet wurde. "Dieses Verfahren war damals das modernste verfügbare Mittel zur Auskleidung von Stollen und hat sich bewährt", so Reumschüssel. Regelmäßige Kontrollen bescheinigen dem Kesselbergstollen bis heute einen sehr guten Zustand, zum Beispiel, als 2015 das Forschungs-U-Boot Jago durch den Tunnel tauchte, um diesen zu inspizieren.

Ingenieursgeschichte: Sechs parallele Druckrohre führen das Wasser in die rund 200 Meter tiefer gelegene Maschinenhalle, wo es insgesamt acht Turbinen antreibt.

Sechs parallele Druckrohre führen das Wasser in die rund 200 Meter tiefer gelegene Maschinenhalle, wo es insgesamt acht Turbinen antreibt.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Durch den Stollen strömt das Wasser mit einer Geschwindigkeit von maximal 84 Kubikmetern pro Sekunde in ein Ausgleichsbecken im Hang, dem sogenannten "Wasserschloss". Von dort wiederum führen sechs parallele Druckrohre das Wasser in die rund 200 Meter tiefer gelegene Maschinenhalle, wo es insgesamt acht Turbinen antreibt, vier davon vom Typ Francis mit je 18 Megawatt Leistung und vier vom Typ Pelton-Freistrahl mit je 13 Megawatt. Die Pelton-Turbinen erzeugen ausschließlich Strom für die Deutsche Bahn.

Da der Strombedarf während des Tages erheblich schwanke, komme die Anlage vor allem zum Ausgleich des Strombedarfs zum Einsatz, teilt Uniper mit. Werde mehr Strom nachgefragt, brächten die Maschinen sofort Höchstleistung. Das Kraftwerk gleiche auch Schwankungen bei Solarstrom und Windkraft aus.

In Ingenieurskreisen gilt das Walchenseekraftwerk als technische Pionierleistung. Doch weder, als der Stollendurchbruch gelungen war, noch als das gesamte Kraftwerk fertig war, wurde gefeiert - die damals wirtschaftlich schlechte Situation stand dem entgegen. Erst Anfang August 1925 trugen sich der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg und der damalige bayerische Ministerpräsident Heinrich Held bei einem offiziellen Festakt ins Gästebuch ein. Dafür wird das Projekt heute von anderen beehrt: Rund 100 000 Gäste aus der ganzen Welt machen das Walchenseekraftwerk zu einem der meistbesuchten Kraftwerke in ganz Deutschland.

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