Süddeutsche Zeitung

Protest aus Iffeldorf und Icking:"Kultur ist ein Grundrecht"

In offenen Briefen appellieren Christoph Kessler und Andrea Fessmann an die Politik

Von Felix Haselsteiner, Iffeldorf/Icking

Christoph Kessler kommt direkt zum Punkt. "Wir protestieren hiermit gegen die Pläne der Staatsregierung und angewiesener Ministerien, dass Kulturveranstaltungen über die nächsten Wochen verboten werden sollen", schreibt der Vorsitzende von "Klangerlebnis", dem Ickinger Verein zur Pflege der Musik, in einem offenen Brief. Adressiert ist er an Ministerpräsident Markus Söder und Kunstminister Bernd Sibler (beide CSU).

Kessler spart in seiner Argumentation, warum es falsch sei, den Kulturbetrieb im Landkreis in den kommenden vier Wochen einzustellen, nicht mit deutlichen Worten. Die Aufrechterhaltung der "Ökonomie", des Wirtschaftsbetriebs also, habe beim Teil-Lockdown im November wohl eindeutig Vorrang gehabt, nur so lasse sich erklären, warum Einkaufszentren weiterhin offen bleiben und große Sportveranstaltungen stattfinden dürften, während die Kunst und Kultur schließen müsse. Dabei gelte, so Kessler: "Kultur ist ein Grundrecht in der bayerischen Verfassung, das so per Verordnung außer Kraft gesetzt werden soll. Kultur prägt das Leben vieler Mitmenschen."

Die Argumentation der Kulturbranche in Deutschland ist durchaus zahlengestützt: Man habe Hygienekonzepte erarbeitet, habe sich an die Regeln gehalten - und es habe auch kaum Infektionen gegeben. Auch Kessler betont dies: "Wir verstehen nicht, dass nach jüngst 63 Veranstaltungen in Bad Tölz, ohne jeden Corona-Fall, flächendeckend dort alle Veranstaltungen abgesagt werden sollen", schreibt er. Insbesondere Kammermusik-Konzerte mit vier Musikern im Abstand von jeweils 1,5 Metern zueinander auf der Bühne und "kontrolliertem Publikum" sowie Lüftungsregelungen sollten weiterhin ermöglicht werden.

Kessler führt in seinem Brief zudem die Studie "Restart-19" an. Wissenschaftler aus Leipzig hatten darin bei einem Testkonzert im Sommer vor 1400 Zuschauern Daten erhoben, wie sich Abstands- und Lüftungsregeln auf das Infektionsrisiko auswirken. Sie hatten festgestellt, dass das Risiko einer Ansteckung unter entsprechenden Regelungen 70 mal geringer sei als normalerweise. Dies nimmt Kessler auf und schreibt: "Wir bereiten sorgsam und nachhaltig alle Veranstaltungen vor."

Konkret sind es vor allem Auftritte wie der des Jerusalem-Quartetts aus Tel Aviv am 13. November, die dem Kulturraum Bad Tölz fehlen werden, sollten die Regelungen bestehen bleiben. Das ehrenamtliche Engagement des Vereins drohe zu scheitern, der eben nicht über die Ressourcen verfüge, "die zum Beispiel ein Fußballverein wie Bayern München hat, dessen Millionen-Einnahmen selbst in der Pandemie aufrecht erhalten wurden". Sollten die Veranstaltungen tatsächlich nicht stattfinden dürfen, wäre daher "große Depression angesagt".

Kesslers deutlichem Appell an die Politik schließen sich solidarisch auch weitere Kulturschaffende an. "Konzerte der klassischen Musik (mit Hygienekonzept) müssen vom Verbot ausgenommen werden!" schreibt Andrea Fessmann in einem offenen Brief an dieselben Adressen. Klassische Musik diene nicht der Unterhaltung, "sondern der Bildung", erklärt die Leiterin der Iffeldorfer Meisterkonzerte und des Vereins Klangkunst im Pfaffenwinkel.

Der Protest der Kulturszene mag laut und deutlich sein und er mag auch in der Bevölkerung auf viel Solidarität stoßen - es bleibt jedoch die Frage, ob sich die Politik im November noch zu einer Revision der Regelungen bewegen lässt. Dass der Kurs der lokalen Einschränkungen aus dem Sommer gegen ein generelles, bundesweites Vorgehen getauscht wurde, bindet zumindest der Lokalpolitik die Hände. Die Verzweiflung und die Anliegen der Kulturschaffenden, die aus den Briefen herauszulesen sind, dürften die höchsten Regierungskreise nun aber zumindest einmal erreicht haben.

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SZ vom 04.11.2020
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