Icking:Schelle Bupp von vorn und hinten

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Der Pappkarton, den Belle Schupp hier trägt, ist nur vorn geschlossen - die Schauspielerin präsentiert sich in diesem Aufzug auch von der Rückseite. (Foto: Hartmut Pöstges)

Schauspielerin Belle Schupp und Schriftsteller Gerd Holzheimer präsentieren unterm Apfelbaum Wortspiele und Provokationen des Dadaismus. Selbst textlose Zeilen werden verständlich

Von Christa Gebhardt, Icking

So einfach ist Dada dann doch nicht, wie Belle Schupp und Gerd Holzheimer in schlichter Verdrehung ihrer Namen in Schelle Bupp und Herd Golzheimer angekündigt hatten. Die Ickinger Schauspielerin und der schriftstellernde Literaturkenner standen am Donnerstag in der idyllischen Kulisse der "Gesellschaft unterm Apfelbaum" auf der Bühne mit einem lyrischen Querschnitt zum 100. Geburtstag des Dadaismus. Die beiden lösten ihr Versprechen ein: Es war ein unterhaltsamer wie lehrreicher Abend mit ausgewählten Texten und Liedern, die herzbewegend, erotisch, wahn- und tiefsinnig bis durchgeknallt daherkamen.

Belle Schupp stellt Emmy Hennings in den Mittelpunkt und löst sie aus ihrer Rolle als "Frau von Hugo Ball", der die künstlerische und literarische Dada-Bewegung 1916 im Exil in Zürich begründet und weitere Dadaisten um sich versammelt hatte, etwa Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Hans Arp und später Kurt Schwitters. Sexuell ungebunden, unkonventionell und absolut nicht gesellschaftsfähig muss sie gewesen sein, diese Emmy, die mit ihren Liedern und Texten allen Dadaisten eine Stimme gab und als Sprachrohr das Gegenkonzept zu einer aus den Fugen geratenen Welt verkörperte. Lärmendes Großstadtgekreisch, dröhnendes Getöse in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs mit seiner neuen grauenhaften Waffentechnik, manipulativer Umgang mit Information wie auch Verstrickung des Menschen in mechanische Prozesse gaben damals vielen Künstlern auf der Flucht vor politischer Verfolgung das Gefühl, keine sinnhaften Worte einer menschlichen Verständigung mehr zu haben.

"So morden wir, so morden wir", heißt es im "Lied vom Totentanz", von der Chansonnière geschmettert und getrommelt in einem rüstungsartigen Pappschachtelkostüm, nur vorne bedeckt und hinten nackt. Das Publikum im Zelt ist nicht schockiert, sondern belustigt. "Die traut sich was, die Belle!" Mut hatten auch die Künstler des Dada, die nicht nur bejubelt, sondern auch heftig angefeindet wurden. In vielen "Manifesten" verkündeten sie ihre Revolte, wenn auch absurd verknüpft und verdichtet. In einzelne phonetische Silben zerlegt und zu rhythmischen Klangbildern zusammengefügt, verweisen die Worte auf eine missbrauchte und pervertierte Sprache. Dada ist, wie Hugo Ball es formulierte, ein Antigeist und die "Lilienmilchseele der Welt".

Schupp rezitiert die klangfarbigen Unsinnskombinationen so selbstverständlich locker, als spräche sie ein tausendmal memoriertes Stück, und Holzheimer erklärt dies nebenbei so lakonisch komisch wie tiefsinnig klug. Viele Zuschauer fragen sich, wie man so etwas auswendig lernt. Zum Beispiel einige Zeilen aus dem Lautgedicht "Karawane" (1917) von Hugo Ball, für das Publikum zu Mitlesen verteilt und intoniert von Belle Schupp: Jolifanto bambla, o falli bambla, egiga goramen, kusagauma, ba-umf.

Emmy Hennings herzergreifende Erinnerungen aus dem Gefängnis, in dem sie wegen Prostitution und Drogenbesitzes saß, erinnern an Christian Morgensterns "Galgenlieder". Doch während Morgenstern seinen Sarkasmus ("Vom Galgen aus sieht man die Welt anders") behielt, verlor die Dadaistin ihre Sprache, die der Philosoph Wittgenstein als "untauglichstes Mittel der Kommunikation" bezeichnet hatte. Schupp aber kann auch wortlose Texte verständlich machen: Sie interpretiert Morgensterns berühmtes Gedicht "Fisches Nachtgesang" - eine Darstellung aus Strichen und Halbbögen - allein mit ihrer Mimik so überdeutlich, dass jeder Zuschauer im Zelt die verzweifelte Botschaft versteht und diesem "Weltrekord an sprachlicher Abstraktion", wie Holzheimer kommentiert, spontan applaudiert.

Leider mussten sich die beiden großartigen Darsteller mit einem herzlichen, aber kurzen Schlussapplaus begnügen. Denn ein wetterumstürzendes Sturmbrausen schlug das Publikum, das sich blendend unterhalten und um einige Literaturkenntnisse reicher fühlte, in die Flucht.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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