Süddeutsche Zeitung

Icking:Therapiestunden auf Pferderücken

Die Physiotherapeutin Stephanie Tetzner bietet seit 20 Jahren Hippo-Therapie für Patienten an - und kämpft um die Finanzierung.

Von Nora Schumann, Icking/Berg

"Eigentlich wollte ich nie Physiotherapeutin werden, weil meine Mutter das schon war", sagt Stephanie Tetzner und lacht. Sie streift sich die Stiefel über und nimmt ihre Jacke aus dem Kofferraum. Gerade noch hat sie einen bekannten Dressurlehrer vom Flughafen abgeholt, schon wartet ihr Isländer-Pferd Bráinn auf seinen Auftritt. Mit Halfter, Trense und Gurt über dem Arm öffnet Tetzner das Stalltor. Die 51-Jährige ist ausgebildete Pferdetherapeutin für sogenannte Hippo-Therapie und Vorsitzende des Freundeskreises Therapeutisches Reiten München in Icking. Der Verein bietet Pferdetherapie, sowie Aus- und Fortbildungen für Therapeuten an und feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Tetzner ist Mitbegründerin und gibt auch Reitstunden für Menschen mit Behinderung.

Die Therapeutin legt Bráinn das Halfter an und führt ihn aus dem Stall. Mit einer Bürste beginnt sie seine Flanken zu striegeln. Schon als Schülerin half sie als Pferdeführerin in der Hippo-Therapie aus. Schnell stellte sie fest, dass sie auch Pferdetherapeutin werden wollte - und dass dafür kein Weg an einer Ausbildung zur Physiotherapeutin vorbeiführte. Tetzner trat dann doch beruflich in die Fußstapfen ihrer Mutter.

Bei der Hippo-Therapie werden sowohl neurologische als auch orthopädische Krankheiten behandelt: Schlaganfälle, Rheuma, Skoliose. Die Patienten setzen sich auf ein ausgebildetes Pferd und werden von der Therapeutin angeleitet und betreut. Die Ausbildung dauert drei Wochen, ist aber laut Tetzner qualitativ sehr hochwertig. "Das hat man nirgendwo sonst, dass man von Anfang an unter Supervision behandelt und Videoanalysen durchführt", erklärt Tetzner. Sie hat zehn Jahre lang als Ausbilderin gearbeitet und kennt aus dieser Zeit fast jeden neu ausgebildeten Therapeuten. Ab und zu kontaktierten sie junge Kollegen, wenn sie ihre Expertise in besonders schwierigen Fällen bräuchten, erzählt Tetzner.

Neben der Pferdetherapie arbeitet sie in der mobilen Frühförderung. Die Hippotherapie sei körperlich zu anstrengend, als dass man allein damit seinen Lebensunterhalt bestreiten könne, sagt Tetzner. "Bis letztes Jahr habe ich mit Warmblütern gearbeitet. Acht Stunden lang die Arme auf 1,70 Meter heben, das schlaucht." Als Therapeutin müsse sie durchgehend die Patienten sichern, ihre Bewegungen manipulieren. Heute arbeitet sie nur noch mit den deutlich kleineren Isländer-Pferden.

Tetzner legt Bráinn eine Langleine an und eine Decke auf den Rücken, die sie mit einem Haltegurt befestigt. Die Patienten reiten meistens ohne Sattel. "Das ist keine Wiese zum Fressen, sondern zum Arbeiten", sagt Tetzner zum Isländer als sie ihn auf die Koppel führt. Ihre Kollegin Sabine Schallmoser hat sich bereit erklärt, eine Patientin zu simulieren und schwingt sich auf den Rücken des Pferdes - gar nicht so einfach ohne Steigbügel. "In der Therapie sind immer drei Menschen am Pferd: die Pferdeführerin dirigiert das Pferd von hinten mit der Langleine, der Patient sitzt auf einer Decke auf dem Tier, und die Therapeutin sichert ihn von der Seite", erklärt Tetzner. "Wenn ein Patient zum Beispiel schlapp sitzt, würde ich mit stop and go arbeiten", ruft Tetzner, während sie den Isländer durchs hohe Gras lenkt. Die simuliert schlappe Silhouette von Sabine Schallmoser richtet sich jäh auf, als Tetzner urplötzlich das Pferd stoppen lässt.

"Ein Therapiepferd muss sich wahnsinnig konzentrieren"

Konzentriert und gekonnt manövriert sie Bráinn mitsamt ihrer Kollegin im Kreis. "Ich schaue mir den Patienten auf dem Pferd in Schrittgeschwindigkeit an und sehe, wo er sich nicht richtig bewegt", erklärt Tetzner. "Dann prüfe ich, ob er sich an der Stelle überhaupt bewegen kann und passe gegebenenfalls die Ausrüstung an." Man könne beispielsweise einen Sattelaufsatz befestigen oder die Steigbügel höher stellen. Die Therapie ersetze eine herkömmliche Physiotherapie nicht, betont Tetzner. Es gehe auf dem Pferd um eine dreidimensionale Bewegung im Raum. "120 Bewegungsimpulse in der Minute gibt das Pferd dem Behandelten, dreitausend Impulse in einer Behandlungseinheit. Wenn ich eine sehr fleißige Physiotherapeutin bin, gebe ich dem Patienten vielleicht 150 Bewegungsimpulse in einer Therapiesitzung." Die Hippo-Therapie sei ein sehr feines Arbeiten, die Patienten seien zum Schluss dennoch erschöpft, sagt sie.

Auch die Pferde brauchen eine spezielle Ausbildung, die im Normalfall mindestens eineinhalb Monate dauert. Zuvor muss das Pferd schon eineinhalb Jahre regelmäßig geritten worden sein. Denn das Tierwohl ist für Tetzner ein sehr wichtiger Aspekt. "Ein Therapiepferd muss sich wahnsinnig konzentrieren", sagt sie. "Es darf nicht auf die Signale der Patienten reagieren. Es muss gerade bleiben, wenn die Patienten auf einer Seite einknicken." Wichtig sei dann, dass das Pferd als Ausgleich "normal" geritten werde. "Ich weigere mich, alte oder kranke Pferde als Therapiepferd zu nehmen", erklärt Tetzner. Was aber qualifiziert ein Tier für die Aufgaben der Therapie? "Der Charakter ist wichtig", sagt die Therapeutin, "und dass die Pferde gesund im Bewegungsablauf sind, keine Taktfehler im Gang haben".

Derzeit stehen in Icking sieben Therapiepferde. Die Pferde sind kein Eigentum des Vereins, sie gehören Privatbesitzern. Der Verein leiht sich die Pferde von Reiterinnen und Reitern, die ihre Tiere im gleichen Stall unterstellen und den Verein unterstützen möchten. Das eigene Pferd an andere Reiter zu verleihen, kann eine heikle Angelegenheit sein. Einmal im Stall angekommen, sei es aber leichter Vertrauen zu gewinnen, sagt Tetzner. "Die Besitzer sehen dann, wie wir arbeiten und dass ich auch mal sage: Danke für das Angebot, dass wir ihr Pferd nutzen dürfen, aber ich nehme es nicht, es wäre nicht so gut fürs Tier." Rund achtzig Pferde hat die Hippo-Therapeutin bereits ausgebildet.

Derzeit wird die Therapie an sechs verschiedenen Standorten angeboten: in Unterbachern bei Dachau, in Gräfelfing, Wangen, Weilheim, am Langwieder See in München und in Farchach, einem Ortsteil der Gemeinde Berg, etwa fünf Kilometer von Icking entfernt. Je nach Standort unterscheiden sich auch die Formen der Therapie. Das Spektrum reicht bis hin zur pädagogischen und psychotherapeutische Behandlung mit dem Pferd.

Kaum eine Therapie wird von der Krankenkasse bezahlt

Bleibt die Frage der Finanzierung, denn die Hippo-Therapie ist kaum von den Krankenkassen anerkannt. Sie ist kein Bestandteil des Heil- und Hilfsmittelkatalogs. "Früher wurden zehn bis 20 Prozent der Fälle von den Krankenkassen übernommen, heute sind es ein bis zwei Prozent", erzählt Tetzner. Dies war einer der Gründe, warum sie mit Gleichgesinnten den Verein ins Leben rief. "Wir wollten jedem ermöglichen, die Therapie zu machen", sagt Tetzner. "Es gab Wartezeiten von einem Jahr." Der Verein wurde mit der Intention gegründet, Spenden zu sammeln, um die Therapie auch für Patienten zu ermöglichen, die sie nicht selbst bezahlen können.

"Mit der Finanzierung schaffen wir es jedes Jahr, aber wir müssen uns ganz weit spreizen", sagt Tetzner. Der Verein hoffe auf Gerichtszahlungen, die bei verhängten Strafen angeordnet werden. Die zu erhalten sei allerdings schwierig. "Da gibt es Listen mit gemeinnützigen Vereinen, und wir stehen vielleicht auf Seite 20", klagt Tetzner. Vorne stünden größere und bekanntere Initiativen. "Wir müssen dann schon einen Richter oder Anwalt kennen, der sagt, heute blättern wir mal auf Seite 20."

Jedes Jahr gebe es im Sommer eine Mitgliederversammlung, und wenn man da finanziell noch nicht über den Berg sei, müsse jeder ran und in seinem Umfeld Spenden sammeln oder Unterstützer akquirieren. "Es gab schon Jahre, in denen ich dachte, nächstes Jahr schaffen wir es nicht", erzählt Tetzner. Und fügt dann hörbar frustriert hinzu: "Das hört sich jetzt blöd an, aber für deutsche Erwachsene, die nicht blind sind, Fördergelder zu bekommen ist ganz schwer." Für den Verein und allgemein wünscht sich die Therapeutin mehr Akzeptanz für Menschen mit Behinderungen. "Und, dass Ställe den Elan von jungen Hippo-Physiotherpeuten unterstützen und ihnen den Raum für Therapiesitzungen bieten."

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SZ vom 22.07.2019/lfr
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