Das Ickinger Konzertpublikum ist Neuem gegenüber aufgeschlossen. Schon im Vorfeld des Gastspiels des Ariel Quartets bei Klangwelt Klassik war klar, dass dies kein Abend nach der Prämisse „Das kenn’ ich doch“ würde. Bevor in der gut gefüllten Aula des Rainer Maria-Rilke-Gymnasiums überhaupt ein Ton erklang, begrüßte Bratschist Jan Grüning die Zuhörenden mit einer Ansage. Es hieße bisweilen, Kultur sei so wichtig, wie noch nie. Nein, so Grüning, Kultur sei ebenso wichtig, wie immer schon. Sprach es, um die Kammermusik- und Klassikfans auf eine musikalische Reise einzuladen, die mit der Komponistin Lera Auerbach begann, zur Musik von Matan Porat führte, um schließlich bei Benjamin Britten zu enden. Auerbach? Porat? Britten? Einschlägige Hörgewohnheiten nach dem Muster, erst Haydn oder Mozart, dann Beethoven oder Brahms, wurden hier nicht bedient.
Das 3. Streichquartett der 51-jährigen Komponistin Lera Auerbach mit dem Titel „Cetera Desunt“ führte gleich zur Eröffnung mitten hinein in das Genre Neue Musik. Auerbach, eine in New York lebende russisch-österreichische Komponistin, hat es 2006 geschrieben. Dunkel und schwer beginnt diese Musik, in ihrer klanglichen Tiefe genial ausgelotet und austariert von den vier Ariel-Streichern aus Cincinnati.
Fantastisch eigenwillige Musik, die abrupt in Stille endet
„Cetera Desunt“ ist ein Sonett aus acht Sätzen, die existenzialistische Titel in lateinischer Sprache tragen. Der erste etwa heißt „Dicis et not es“ – „du sprichst zwar, doch existierst du nicht“. Eine ungewohnte, spannend-kontrastreiche Klangwelt tut sich da auf. Wenn etwa die Bratsche von Jan Grüning ein Ostinato mit metallisch klingenden Sechzehnteln hämmert, während seine drei Kollegen, die Violinisten Gershon Gerchikov und Alexandra Kazovsky, sowie Cellistin Amit Even-Tov ein aufgeregtes Zupf-Terzett entfalten.
Man spürt in jeder Note, dass das Ariel Quartet zusammen mit der Komponistin deren Welt intensiv erarbeitet hat. Zwischendurch taucht ein Tango auf, der wie eine Fortsetzung des Idioms von Astor Piazzolla wirkt, oder es folgt eine Anspielung auf Schuberts Quartett „Der Tod und das Mädchen“, die die Musiker in verschwommen ferner Stimmung zelebrieren. Und immer wieder endet die fantastisch eigenwillige Musik abrupt in der Stille.
Das Spektrum an Ausdrucksmitteln, die das seit 1998 bestehende Ariel Quartet dafür zur Verfügung hat, ist gewaltig. Und gezielt bedienen sich die vier Musiker der Farben und Mittel, die sie zur Verfügung haben. Dafür bekommen sie großen Beifall aus dem Auditorium.
Orientalische Melodien verbinden sich mit dissonanten Klängen
Dann kündigt Bratschist Jan Grüning, der übrigens in Schäftlarn in die Schule gegangen ist, bevor er zu seiner Musikausbildung in die USA ging, den zweiten, wie er ihn nennt „helleren Teil“ des Abends an. Die Reise geht mit Musik des in Berlin lebenden israelischen Pianisten und Komponisten Matan Porat weiter. Seine „4 Ladino Songs“ hat der 42-Jährige 2017 als Auftragswerk des Ariel Quartet zu dessen 20-jährigem Bestehen geschrieben. Es sind Lieder in jüdisch-spanischer Sprache, die sich nach der Vertreibung der in Spanien lebenden Juden im Jahr 1492 bis in den Balkan, in die Türkei und nach Marokko verbreitet haben. Orientalisch anmutende Melodien verbinden sich bei Porat mit neuen dissonanten Ausdrucksformen. Wie zuvor schon bei der Interpretation von Auerbachs Musik ist auch hier zu spüren, wie nah die Musiker dem Komponisten stehen. Seine Musik setzen sie beeindruckend ausdrucksstark um.
Plötzlich ist das Streichquartett ein Ensemble, in dem nur noch eine Geige und ein Cello im gewohnten Streichersound zu hören sind, während die andere Geige und die Bratsche in Gitarrenspielhaltung wie Ukulelen angeschlagen werden. Dazu heben die vier Musiker zu einem leisen vierstimmigen Gesang an. Schließlich endet die instrumentale Begleitung und das Streichquartett hat sich in ein Vokalensemble verwandelt.
Kammermusik jenseits der Komfortzone
Auch das begeisterte Publikum im Rainer-Maria-Rilke-Saal ist kein gewöhnliches Kammermusikpublikum. Etliche junge Hörer sind zu sehen, die von ihrem „Kulturabo“ Gebrauch gemacht haben. Zu ihnen gehört Leopold Stich, der in der Pause das Gespräch sucht. „Das erste Quartett fand ich ein bisschen langatmig“, sagt der Schüler, der die achte Klasse des Gymnasiums besucht. „Das Zweite fand ich sehr schön.“
Den Abschluss der von Grüning angekündigten musikalischen Reise bildet das 2. Streichquartett von Benjamin Britten aus dem Jahr 1945. Auch der Engländer blickt in seiner Musik aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Stark wirkt der letzte Satz seines dreiteiligen Werks: eine Chaconne, bei der Violinist Gershon Gerchikov die Spielweise der berühmten Chaconne von Johann Sebastian Bach aus dessen d-Moll-Partita aufgreift, während ihn seine drei Mitspieler in einem neu tönenden Tremolo begleiten.
Ein großartiger Abend mit viel Beifall zum ungewöhnlichen Programm, das auch die Zuhörerinnen und Zuhörer herausforderte, die Komfortzone zu verlassen und sich von neuen, ungewohnten Klängen konfrontieren und überzeugen zu lassen. Nur hier in Icking konnte das Ariel Quartet die unkonventionelle Melange auf seiner Deutschland-Tournee wagen. Bei den nächsten Konzerten steht wie gewöhnlich Mozart und Ravel auf dem Programm. Die Ariel-Musiker werden auch dabei für Überraschung sorgen.
Das nächste Konzert bei Klangwelt Klassik gestaltet am 14. Dezember das Bennewitz Quartet aus Prag; weitere Informationen unter www.klangwelt-klassik.de