Süddeutsche Zeitung

Icking:Eine Gänsemama namens Finn

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Der 17-Jährige Finn Fagner hat sich die Eier schicken lassen. Jetzt spricht er sogar mit den Küken. Die Kleinen folgen ihm überall hin - ein Experiment wie von Konrad Lorenz.

Von Benjamin Engel, Icking

Finn Fagner braucht nur zu pfeifen, schon folgen sie ihm. Die sechs Küken formieren sich zu einer Reihe und staksen ihm einfach hinterher - eines nach dem anderen. Ändert er seine Richtung, reagieren sie sofort. Der 17-Jährige ist seit rund fünf Wochen die Ersatzmutter für seine kleinen, jungen Graugänse.

Den junge Finn Fagner wohnt mit seiner Familie auf Gut Meilenberg, sie haben Hühner und Pferde, früher hatten sie schon einmal Gänse. Jetzt wollte der 17-Jährige Konrad Lorenz nacheifern: Der Verhaltensforscher hat das Phänomen der Prägung bereits in den Dreißigerjahren beschrieben. Kurz nach dem Schlüpfen orientieren sich die Küken an Objekten in ihrer Nähe, die sich bewegen und Laute von sich geben. Lorenz arbeitete mit Graugänsen auch im Institut von Seewiesen zwischen Starnberger See und Ammersee. Seitdem sind die Tiere in der Region heimisch.

Für Fagner war es dagegen schwierig, überhaupt an Graugänse zu kommen. Es sollten nämlich keine Hausgänse sein, nachdem er einmal in Münsing Nilgänse mit den besonderen dunklen Augenflecken gesehen hatte. Lange suchte er vergeblich nach einem Züchter, der auch Eier verschickt. Schließlich wurde er in Norddeutschland fündig, 25 Eier kamen per Post, fünf Euro das Stück. Sie ruhten für rund einen Monat in einen Brutkasten bei einer Temperatur von genau 37,8 Grad Celsius und hoher Luftfeuchtigkeit. Vor fünf Wochen schlüpften allerdings nur zwei Küken.

Trotzdem war es für den Jugendlichen ein besonderes Erlebnis: "Die haben schon durch die Schale gepiepst", erzählt er. Und als er sich anfangs zu ihnen setzte, kuschelten sie sich an seine Beine und schliefen ein. Auch Namen waren schnell gefunden: Alfred und Stibitzi nach den Protagonisten der Zeichentrickserie um die Ente Alfred Jodocus Kwak. Wenig später verdreifachte sich die Zahl der Gänse: Ein Bekannter rief an und fragte, ob er nicht noch vier weitere Küken aufnehmen wolle. Sie hatten ihre Mutter verloren.

Inzwischen sind die Gänse fünf Wochen alt. Der frische Flaum ist schon teils verschwunden. Und manchmal picken die Gänse nach dem Jugendlichen. Davon hat er einige rote Stellen an den Armen. Manchmal versuchen sie schon zu fliegen. "Doch das klappt noch nicht ganz", sagt Fagner. Mittlerweile muss er gut aufpassen, dass die Gänse nicht einfach davonlaufen. Vor ein paar Tagen folgten sie plötzlich einem vorbeifahrenden Radler. Fagner hatte Mühe, sie wieder einzufangen.

Ist der Gymnasiast zu Hause, kümmert er sich intensiv um die jungen Gänse. Er gibt ihnen mehrmals am Tag frisches Wasser, wechselt das Stroh im Stall, in dem sie übernachten, gibt ihnen beispielsweise Löwenzahn zu fressen, streichelt sie und unterhält sich mit ihnen. "Nach dem Wasser und dem Fressen ist es das Wichtigste, mit ihnen zu sprechen", sagt er. So reicht ein kurzes "Hallo" und die Gänseschar rennt aufgeregt auf ihn zu. Regelrecht empört reagieren sie, wenn er morgens zur Schule muss. Sind die Gänse nicht im Stall, haben sie einen abgezäunten Bereich im Freien. Ansonsten ist Fagner mit ihnen auf dem Hof unterwegs, geht mit ihnen an heißen Tagen zu einer Pfütze zum Baden. Komisch reagiert habe noch keiner seiner Mitschüler auf seine neuen Haustiere, sagt er. "Die meisten finden es ganz süß."

Die Gänse bleiben bis zur Geschlechtsreife zusammen. Manche von ihnen werden noch wiederkommen, wenn sie schon längst Nachwuchs haben.

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SZ vom 28.06.2016
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