Süddeutsche Zeitung

Icking:Europa frontal

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Der ehemalige Ministerpräsident Edmund Stoiber diskutiert mit Ickinger Gymnasiasten über Chancen und Grenzen der EU

Von Ingrid Hügenell, Icking

Gegen Ende wird Edmund Stoiber direkt heftig - als es um die Frage geht, ob er einen EU-Beitritt der Türkei befürwortet. Bis dahin hat sich der frühere bayerische Ministerpräsident als überzeugter, leidenschaftlicher Europäer gezeigt - nun wird klar, wo die Grenzen sind. Denn die Türkei in der EU - das lehnt Stoiber strikt ab, "das würde die EU zerstören." Zu groß seien die Defizite etwa bei der Demonstrations- und der Meinungsfreiheit. "Wenn Sie hier sagen, die bayerische Staatsregierung taugt nichts, dann können Sie das", erklärt er der Schülerin Merlin Reithmann, die nach der Türkei gefragt hat. "Ich würde Ihnen vehement widersprechen, aber sagen dürfen Sie es." Wer in der Türkei aber den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan kritisiere, laufe Gefahr, ins Gefängnis zu kommen.

Braucht Europa (noch) Europa? Mit diesem Thema hat sich die Oberstufe des Ickinger Rainer-Maria-Rilke-Gymnasiums befasst und dazu hat die Schule Stoiber eingeladen. Die Veranstaltung ist Teil des Ickinger Herbstes, in dem das Gymnasium sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Wie Schulleiter Hans Härtl sagt, habe der Erste Weltkrieg die Menschen nicht befriedet und mit dem Zweiten Weltkrieg sei dann erneut eine Katastrophe über Europa und die Welt hereingebrochen. Die anschließende europäische Einigung, vorangetrieben von den einstigen "Erbfeinden" Deutschland und Frankreich, habe zum Frieden in Europa geführt, ergänzt Stoiber. "Als ich so alt war wie ihr, war Europa ein ungeheurer Traum", sagt er den Schülern. Stoiber, Jahrgang 1941, berichtet, in seiner Schulzeit habe etwa die Hälfte der Schüler keinen Vater gehabt - weil diese im Krieg gefallen seien. Die "faszinierende Idee" der europäischen Einigung sei der Weg gewesen zu einem Europa ohne Krieg.

Stoiber ist nahbar, freundlich, offen, er hört genau zu, wenn die Schüler ihre vorbereiteten Fragen stellen - und antwortet dann gerne ausschweifend. Immerhin einer der Schüler, Michael Scheidler, hakt mehrfach nach, es entwickelt sich so etwas wie ein Dialog. Der junge Mann, der sich sehr für den Einfluss Deutschlands in der EU interessiert, spricht nach der Veranstaltung noch angeregt weiter mit dem Ministerpräsidenten a. D.. Sicher hätte Stoiber weitere Fragen bereitwillig beantwortet. Doch die eineinhalb Stunden sind zu eng getaktet, die Themen zu komplex, und Schulleiter Härtl achtet streng auf den Zeitplan - nicht alle können ihre Fragen stellen. Die Elft- und Zwölftklässler haben sich auf die Themen Migration, Schuldenkrise und Demokratiedefizit der EU vorbereitet, und eben darauf, ob die Türkei EU-Mitglied werden soll.

Leicht könnte Stoiber, der bis Oktober in Brüssel versucht hat, die Bürokratie der EU einzudämmen, sicherlich über jedes dieser Thema länger als eineinhalb Stunden diskutieren. So bleibt es weitgehend beim Frontalunterricht, und nach den Gesichtern zu schließen, sind viele der Schüler spätestens nach einer Stunde schon bei der folgenden Matheklausur, wenn nicht gar in der Pause, und nicht mehr unbedingt bei Stoiber und Europa.

Der Schüler Florentin Staudacher bedauert, dass nicht mehr diskutiert wurde, Reithmann beurteilt die Veranstaltung als sehr gut und Nikolas Lindner weist darauf hin, es passiere ja nicht jeden Tag, dass so ein wichtiger Mann an die Schule komme. "Das war aufschlussreich, hat einiges gebracht", sagt er. Was die Schüler wohl mitnehmen: Stoibers eindringliche Aussage, dass die Lage ohne die EU und ohne den Euro für Deutschland und die Welt sehr schwierig würde.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2014
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